Herr D. und der Gerstensack
Seitenblick
Von Hans W. Korfmann
Herr D. konnte sich das gar nicht mehr vorstellen. Dass er wirklich einmal mit der Liebich ausgegangen war. Er im schwarzen Anzug, sie in Stöckelschuhen. Das war ganz am Anfang gewesen, da hatte er gerade angefangen hier in Berlin, da war er noch ganz verwirrt gewesen von dieser Großstadt. Bonn war tatsächlich gemütlicher gewesen.
Aber auch Berlin hatte seine gemütlichen Nischen. Das war immer wieder überraschend. Und eine dieser Überraschungen hatte er an diesem Abend erlebt, als er mit der Liebich aus dem Theater kam und es schneite plötzlich und war tiefster Winter geworden. Die Liebich kannte sich aus in dem Viertel und zog ihn drei Stufen hinunter in ein kleines Lokal im Souterrain. An der Wand war, akkurat wie von alten Waldarbeitern, das Buchenholz aufgestapelt, und es roch angenehm würzig vom Feuer herüber, das im Kamin leise knisternd vor sich hin flackerte.
Der Wirt war von ausgesuchter Höflichkeit, begrüßte die Gäste mit kaum sichtbarer Verbeugung. Er trug einen Anzug, hatte eine Glatze und ein überaus freundliches Gesicht, das immer ein bisschen zu lächeln schien. Es war ein schöner Abend gewesen mit Rotwein und schwäbischen Maultaschen und Krustenbraten, auch wenn die Liebich ein bisschen viel redete.
Das Lokal wurde zu Herrn D.'s erstem Stammlokal in Berlin. Immer, wenn ihm die Stadt zu laut wurde, kehrte er bei "Peter" ein, trank ein Glas Rotwein oder zwei und hörte dem Feuer zu. Manchmal saß Herr Momper in der Ecke, der ehemalige Bürgermeister, manchmal eine alte Dame, die jedes Mal, wenn sie kam, ein kleines Papierschiffchen aus der Rechnung faltete. Peter hatte eines Tages damit begonnen, diese kleinen Schiffchen aufzuheben. Als Herr D. das letzte Mal dort war, standen schon drei gläserne Vasen voller Papierschiffchen neben der Kasse. Es waren kleine Rettungsboote.
Denn vielleicht hätte Peter mehr solcher kleinen Schiffchen gebraucht. Als Herr D. eines Tages wieder an den Kamin wollte, lagen Blumen und Kränze vor dem Eingang und statt des Feuers brannten kleine Kerzen. Später erfuhr Herr D., dass Peter sich am Kronleuchter seines Lokals aufgehängt hatte, in seinem besten Anzug.
Als Herr D. einige Tage später noch einmal dort vorbeiging, hing an der Tür über den schon welken Blumen ein großer, schmuckloser Zettel. Darauf stand in fetten Buchstaben: "Pfandgut des Vermieters!" Und an eine Hauswand, nicht weit entfernt, hatte jemand gesprüht: "Hausbesitzer sind Scheiße!"
Frankfurter Rundschau - 2006
© Hans W. Korfmann
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