Herr D. und die Schattenhochzeit
Seitenblick
Von Hans W. Korfmann
"Die Haut ihres Gesichtes und ihres Halses war blass, beinahe durchsichtig." Herr D. gähnte. Er "hatte einen Kloß im Hals, und der Speichel wurde zu Sägemehl" - Herr D. schluckte. Wenig später rülpste Herr D., denn "Daniel glitt durch die Tür." Wie oft "glitten" diese literarischen Wesen lautlos durch irgendwelche Türen. Eigentlich langweilten Herrn D. solche Phrasen, aber dieses Mal ärgerte es ihn, denn Daniel war gerade mal zehn Jahre alt, und ein Zehnjähriger rennt, hüpft oder stolpert, ein Zehnjähriger schleicht vielleicht. Aber er gleitet nicht.
Die Sprache dieses Buches war Herrn D., dem hauptberuflichen Leser von Aktenordnern, nicht präzise genug. Außerdem hatte Herr D. bei jeder Figur dieses Romans den Eindruck, als habe er von ihr schon woanders gelesen. Als auf Seite 37 wieder dieser Mann auftauchte, der ein Bein nachzog, um sich wahrscheinlich demnächst als Teufel zu outen, trug Herr D. "Im Schatten des Windes" zur Rezeption seines kleinen Hotels und verleibte es der Gästebibliothek ein, gleich neben die "Schattenhochzeit".
So ein schlechtes Buch konnte einem den ganzen Urlaub verderben! Deshalb hatte Herr D. beim Packen auch lange vor dem Stapel ungelesener Bücher gestanden und sich dann für einen Bestseller entschieden - in der Hoffnung, dass sich so Viele nicht irren könnten. Vielleicht hatte den heimlichen Freund des Automobilrennsports auch die Abwandlung der Vokabel "Windschatten" verführt. Doch "Im Schatten des Windes" handelte nicht von Rennfahrern. Es langweilte.
Ganz anders als die "Schattenhochzeit" von Ioanna Karystian. Die Geschichte über eine kretische Vendetta, die scheinbar noch unberührt in der Bibliothek des Hotels stand, katapultierte Herrn D. innerhalb weniger Seiten in eine andere Welt. In diesem Roman ließ nicht der Autor das Blut fließen, diese Geschichte war von Blut und Leben durchpulst. Und der Kloß steckte nicht in Daniels jungem und blassem Intellektuellenhals, sondern in dem des Lesers.
Auf der Heimreise erinnerte sich Herr D. an die Fernsehsendung, in der Elke Heidenreich den Bestseller vom Windschatten vorgestellt hatte. Er fragte sich, wie so ein glänzender Rhetoriker wie Joschka Fischer diesen Satz sagen konnte: "Sie werden alles liegenlassen und die Nacht durchlesen!" War er von der Moderatorin bestochen worden, würde er demnächst bei Suhrkamp anfangen, würde er vielleicht gar selbst als Autor... ?
Frankfurter Rundschau - 2006
© Hans W. Korfmann
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