Herr D. Der Lehrter Bahnhof
Seitenblick
Von Hans W. Korfmann
Herr D. war am Morgen beim Bäcker gewesen, im Zeitungsladen, wegen des Schnupfens beim Apotheker und wegen des Platten in der Fahrradstation, und überall waren die Leute am Schimpfen. Herr D. verstand nur Bahnhof. Also beschloss er, am Abend selbst hinzuradeln und sich das Spektakel anzusehen, das europaweit auf den neuen Bahnhof aufmerksam machen sollte.
Tatsächlich waren auch einige Berliner gekommen. Wenn auch weniger wegen des nächtlichen Spektakels über den Glasröhren, als um zu meckern. Sie standen auf der frischen Grünfläche mit den drei Meter hohen Fußballschuhen gegenüber vom Kanzleramt, sie standen vor dem Nachbau des Olympiastadions vor dem Reichstag, und sie standen da, wo man nach dem Abriss des historischen Lehrter Stadtbahnhofs die Beobachtungsplattform errichtet hatte, damit man die Aktivitäten auf der Baustelle besser beobachten konnte.
"Wenn die die Plattform vorher aufgestellt hätten und dann noch ein paar Politiker drauf, dann hätten die vielleicht auch rechtzeitig bemerkt, dass der Lehrter Bahnhof ein Schmuckstück war", sagte ein sachkundiger Berliner. "Ick bin von hier jeden Morgen mit der S-Bahn rausgefahren nach Wannsee uff Arbeit. Jeden Morgen hab ick hier unterm Glasdach gestanden und eene jerocht und jefroren. . .", erinnerte ein anderer, als wäre Frieren etwas Schönes.
"Der stand sogar noch unter Denkmalschutz. Aber den haben sie dann schnell aufgehoben, von wegen Hauptstadt und so...", sagte eine Berlinerin und schob ungeniert einen Busen zwischen die diskutierenden Männer, der Herrn D. stark an Dolly Buster erinnerte. "Am Anfang hieß es ja, sie würden den Glasbahnhof um den alten Lehrter Bahnhof herumbauen", sagte Dolly. "Weil der ja nicht abgerissen werden durfte. Da hab ich gedacht: Tolle Sache! Das wäre wie'n Museum! So ein gläserner Sarkophag, wie bei Schneewittchen. Aber dann!"
"Wenn's Ihnen nicht gefällt, dann können Sie ja wieder gehen!", sagte eine angereiste Flachbusige mit Tochter an der Hand. "Ich bin nicht extra von Potsdam gekommen, um mir von Ihnen die Laune verderben zu lassen."
"Wo gibt's denn hier Bier?", fragte Herr D. Die Berliner antworteten der Reihe nach: "Hier, hier gibt's im Umkreis von 3 Kilometern kein Bier." - "Brezel auch nicht." - "Bratwurst auch nicht."- "Hier gibt's genau genommen gar nichts. Ich versteh gar nicht, wieso hier ein Zug hält."
Herr D. fuhr noch vor dem Spektakel wieder heimwärts. Die Berliner Bürger waren tatsächlich schlimmer als das Berliner Wetter. Aber Recht hatten sie.
Frankfurter Rundschau - 2006
© Hans W. Korfmann
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