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Herr D. unterwegs nach Husum

Seitenblick

Von Hans W. Korfmann

Herr D. war kein Freund der Deutschen Bahn mehr. Im Gegenteil: Seit jene glücklichen Tage vergangen waren, in denen die kleinen Abteile noch ein Ort der Kommunikation, des Kartenspiels und der Liebe waren, als man die Sitze noch zusammenschieben und die Vorhänge vorziehen konnte, worauf der Kontrolleur dezent weiterging, war Herr D. ein erklärter Feind der Deutschen Bahn. Doch seit sein Neffe dieses Plakat gesehen hatte, wo die Bahn mit dem Ostseeticket lockte, wollte er, der nach Berlin gekommen war, um Berlin zu sehen, unbedingt das Meer sehen. Ob Nordsee oder Ostsee, das war dem Kind der Nachmauerära allerdings egal. Weshalb sich Herr D. zur Zugfahrt Berlin-Husum entschloss.

Schon am Schalter begann er mit den Zähnen zu knirschen. Auf allen Plakatwänden sprach die Bahn von Vergünstigungen, von Fahrten durch ganz Deutschland für dreißig Euro, und dann gab es keine einzige Vergünstigung für ihn. Da müsse er früher kommen. Drei Tage mindestens. Oder über das Wochenende oder an die Ostsee fahren, da gäbe es das Ostseeticket. Weshalb es kein Nordseeticket gäbe, fragte Herr D., doch Mehdorns Schalterfrau mit der blauen Beamtenmütze auf den blonden Haaren schwieg.

Damit Herr D. mit seinem Neffen nicht bis Hamburg im Gang stehen musste, reservierte er zwei Fensterplätze im Wagen Nummer 4. Dann schob er Mehdorns Schalterfrau hundert Euro rüber, strich vier Münzen wieder ein und zog seinen Zögling hinter sich her über den kilometerlangen nagelneuen Bahnsteig unter dem nagelneuen Glasdom, wobei er sich fragte, was dieser Pomp den Steuerzahler im Allgemeinen und den Fahrgast im Besonderen gekostet hatte. Dann suchte er am Wagenstandanzeiger Wagen Nummer 4. Ohne Erfolg. Obwohl doch dieser Wagenstandanzeiger noch undigitalisiert war. "Siehst du da irgendwo eine 4?", fragte er den Neffen, denn Herr D. wusste, dass er manchmal vor lauter Ärger nur noch rotsah. Aber auch der Neffe fand Nummer 4 nicht.

Als der Zug kam, war Herr D. froh, Plätze reserviert zu haben. Offensichtlich waren noch mehr Menschen auf die Idee gekommen, ans Meer zu fahren. Herr D. stieg ein und lief, Neffen und Koffer an der Hand, den Gang entlang bis zur Lokomotive und wieder zurück bis zum letzten Wagen. Aber bei Nummer 5 war Schluss. Er wollte gerade in die Luft gehen, da kam der Schaffner: "Die Fahrscheine bitte!" - "Nö!", sagte Herr D. mit der Reisetasche und dem Neffen. "Keine Hand frei. Erst wenn wir sitzen!" Der Schaffner sah ihn verständnislos an. "Ich such' Wagen Nummer 4!", schnaubte Herr D. "Können Sie mir sagen, wie ich da hinkomme?" - "Überhaupt nicht!", sagte der Kontrolleur. "Der ist hinter dem Triebwagen. Da müssen Sie bis Hamburg warten und dann außen rumgehen!"

Frankfurter Rundschau - 2006
© Hans W. Korfmann

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