Herr D. und der Reiseführer
Seitenblick
Von Hans W. Korfmann
"Na, wieder im gelobten Land gewesen?" Es war nicht Kollegin Liebich, die immer in die Karibik fuhr, es war Schulz, der Nachbar. Alle wussten, dass Herr D. zum Urlaub nur nach Kreta fuhr. Aber diesmal antwortete er: "Frankfurter Buchmesse!" Herr D. fuhr jedes Jahr zur Buchmesse, auch wenn sie ihn jedes Mal enttäuschte. Aber er stieß dann doch immer wieder auf ein Buch. Diesmal beim Inselverlag. Ein Buch über eine Insel, über seine Insel, über Kreta! Und Herr D. las…
"In ihren Voraussetzungen einer Erzählung berichtet Christa Wolf folgendes: Wahrscheinlich sei die minoische Kultur kein verlorenes Paradies gewesen, sondern eine Herrschaftsform mit theokratischer Hierarchie, mit feudalem Klassen- und Schichtensystem, mit Ausbeutung und Sklaverei."
Das Buch stand da, wo Herr D. nie gesucht hätte. Es handelte sich um einen Reiseführer, Herr D. aber wollte die Welt selbst entdecken. Wenn er las, dann Fiktives, Kriminalistisches, Poetisches. Als er das Buch in die Hand nahm, hatte er nur Fotos ansehen wollen. Aber dann stieß er auf diese Zeilen und diesen Ort, vor dem er selbst gestanden hatte: "In Aradena schlug Daskalojánis seine letzte Schlacht, das Dorf wurde vollkommen zerstört. Doch das ist nicht der Grund, warum das heutige Dorf nur aus Ruinen besteht. 1947 entbrannte aufgrund eines nichtigen Anlasses ein Streit, der binnen 36 Stunden zwei Familien auslöschte."
Auch seinem alten Freund Henry Miller war die Autorin gefolgt, der "mit spitzen Bemerkungen über Lefteris Alexiou nicht spart", vorgibt, "den Namen des Provinzgelehrten vergessen zu haben". Doch so sehr die Autorin hier noch mit Miller schmunzelt, so viel Mitgefühl zeigt sie wenig später, als Elli Alexiou 1963 das Atelier ihres gelehrten Bruders betritt, das berühmt war für seine Bibliothek und seine Plattensammlung, und es "in einem verwahrlosten Zustand vorfand, verstaubt und voller Spinnweben, ähnlich verlassen und vergessen wie der Bruder."
Herr D. war glücklich. Wieder war er ganz unvermutet auf eine Perle gestoßen und fühlte sich wie ein Entdecker. Fühlte sich verschworen mit der Autorin, die die wenigen literarischen Spuren auf Kreta bis in Regionen verfolgt hatte, in denen niemand je zuvor geforscht hatte. Die Autorin aber erschien zu keiner Lesung und zu keiner Diskussion, und als Herr D. nach ihr fragte, kannte man nicht einmal ihren Namen. "Wie sagten Sie? Prinzinger? Warten Sie mal…", und dann musste die Schöne im Verzeichnis nachsehen. "Wir haben ja so viele Autoren, wissen Sie!" Herr D. lächelte wissend.
Frankfurter Rundschau - 2006
© Hans W. Korfmann
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