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Herr D. im Via Hedoc

Seitenblick

Von Hans W. Korfmann

Die Zeiten, als Herr D. Turbane, Kopftücher, wallende Bärte und Wasserpfeifen als orientalische Dekoration und Ausdruck weltstädtischer Internationalität empfand, waren vorüber. Seit der amerikanischen Kriegserklärung am 11. September war die Stimmung auch im Multikulti-Kreuzberg angespannt, das friedliche Miteinander wurde unfriedlicher.

Die kulturelle kulinarische Vielfalt allerdings erfreute ihn noch immer. Er brauchte nicht einmal sein Fahrrad zu besteigen, um sich auf eine gastronomische Weltreise zu begeben, denn es gab indische, pakistanische, tibetische, kambodschanische, thailändische, ägyptische, französische, schwedische, sogar österreichische und sogar deutsche Küche gleich vor der Haustür. Und es gab das kleine vietnamesische Via He in der Heimstraße. Da saß er nun, als ein Kopf in der Tür des Lokals erschien, der ihm bekannt vorkam. Der Kopf war rundlich und trug eine goldene Brille. Auch der Bauch war rundlich, trug aber eine Krawatte. Herr D. fragte sich, was diese Imitation des dicken ExKanzlers die Heimstraße hinauf in dieses kleine Lokal getrieben hatte.

Die Imitation wählte einen Tisch zwischen einem tätowierten Pärchen, das ganz unverschämt über Sexualpraktiken debattierte, und einem älteren Paar, das keineswegs arabisch aussah, aber die Reishäufchen auf Stäbchen zum Mund balancierte, ohne dass auch nur ein einziges Körnchen auf den Teller zurückfiel. Es war einer der Köche persönlich, der an den Tisch des Herrn mit der Goldbrille trat und schweigend die Karte aufblätterte.

Das Kohldouble aber sah noch immer zu dem tätowierten Mann hinüber, der, während ihm die Reisnudeln aus den Mundwinkeln baumelten, gerade über Fellatio sprach, was die suppenlöffelnde Schönheit mit den gepiercten Augenlidern nicht sonderlich zu beeindrucken schien. Die Frau des älteren Paares am Nebentisch, das abwechselnd arabisch, englisch und französisch sprach, sagte: "Man sieht den jungen Leuten den Hunger schon an, nicht wahr?" - In akzentfreiem Deutsch. "Das Ergebnis achtjähriger Sozialdemokratie!" Der Kohlkopf nickte.

Der Vietnamese am Tisch des Herrn sagte: "Jedes Gericht auf der blauen Seite nur 5 Euro!" Da fiel Kohl die Kinnlade auf den gut gefütterten Adamsapfel. Das war ihm zu billig! Aber dann sagte er: "Ich nehme zwei Nem Goi Cuom, einmal Pho Ga und einmal Ga Nau Curry nuoc dura." Als bestelle er eine Bratwurst. In diesem Moment kam Herrn D. der Verdacht, dass dieser Kohl echt sein könnte.

"Aber große Portion!", wandte der Koch ein, der nur sparsam deutsch sprach. Er kochte ja auch nicht deutsch. "Egal!", sagte Kohl, der gerade die Österreicher hinten im Eck belauschte, die lautstark über den "Transfer von 2,3 Millionen" plauderten. Der Kohlkopf wusste gar nicht, wo er zuerst hinhören sollte in diesem verrückten Restaurant. Endlich kamen seine hauchdünnen Reispapierröllchen. Da schloss der Feinschmecker die Augen und vergaß all das Geschwätz und ließ die Gewürze aus den Tiefen des dampfenden Urwaldes langsam auf seiner Zunge zergehen. Da ist Herr D. sich sicher: Der Kohl ist echt. Für einen Moment schließt auch Herr D. die Augen. Als er aufwacht, spricht der Fernsehkoch gerade über Kohlrouladen.

Frankfurter Rundschau - 2006
© Hans W. Korfmann

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