Herr D. auf dem Amt
Wenn man vom Rathaus kommt, hat man manchmal
Glück gehabt
Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton
Herr D. stand auf der Straße, kratzte sich den
kahlen Hinterkopf und sah die gewaltige Frankfurter Allee hinauf
und hinunter. Wo sich das neue Rathaus befand, wusste keiner genau.
D. steuerte auf ein stattliches Gebäude zu, mit Türmen,
langen Fensterreihen, Fahnenstangen . . . Das könnte einmal
ein Rathaus gewesen sein. Jetzt war ein Secondhandshop in der vermeintlichen
Verwaltungszentrale des sozialistischen Friedrichshain eingezogen.
"Traurige Metapher", dachte D., der morgens immer ein
bisschen sentimental war und gern auf der Seite der Verlierer stand.
"Das ist jetzt da hinten!" sagte eine Passantin.
Dennoch lief D. gleich zweimal am neuen Bezirksamt
vorüber, denn der Eingang versteckte sich im Innern eines frisch
zementierten Einkaufszentrums mit Lebensmittelfiliale, Sportgeschäft,
Restaurant . . .
Aber als er den Fahrstuhl gefunden, die zwei Stockwerke
hinaufgefahren war und sich plötzlich in einem Labyrinth von
Gängen wiederfand - langen Gängen mit verschlossenen Türen,
Türen mit dreistelligen Nummern, Türen, hinter denen kein
Laut zu vernehmen war, Türen, vor denen manchmal einige Menschen
klein und traurig auf billigen Stühlen saßen und nicht
wussten, was sie mit sich anfangen sollten -, da wusste D., dass
er richtig war.
353 suchte er jetzt, lief links, rechts, vor und zurück
und hätte schon längst nicht mehr sagen können, von
wo er gekommen war, wo sich der Ausgang befand - da kam ihm tatsächlich
eine Frau mit einem Aktenordner entgegen. D. bremste ihre Geschwindigkeit
schon von Ferne mit einer Hilfe suchenden Handbewegung ab. "Ich
finde die 340er-Reihe, die 360er-Reihe - aber die 350er haben Sie
offensichtlich ausgelassen!" versuchte er es und lächelte
freundlich. Die junge Frau mit den Unterlagen sagte: "Da müssen
Sie durch die Schleuse dort, drüben ins nächste Gebäude
hinüber und dann den zweiten Gang links und den vierten wieder
rechts. Was suchen Sie denn?" "Die Urkundenstelle!"
"Ach, die ist doch jetzt im Dritten! Also, da gehen Sie gleich
den nächsten Gang rechts bis zum Fahrstuhl, fahren eins höher,
gehen wieder rechts den langen Gang entlang bis zum Ende, da kommt
eine Tür auf der linken Seite, eine gläserne, da gehen
Sie rein, und dann, dann fragen Sie am besten noch mal!"
D. stand im Fahrstuhl, neben ihm Menschen mit Aktenordnern
und eine Frau mit einem Kinderwagen. Das Kind schrie. Die Menschen
mit den Aktenordnern warfen einen kurzen Blick auf das Kind. D.
folgte sämtlichen Anweisungen und gelangte am Ende ins Zimmer
von Frau Görlitz - Urkundenstelle. "Ich habe alles dabei!"
sagte D. und öffnete seine alte Aktentasche, in der er alles
aufbewahrte, was der Mensch in Deutschland zum offiziellen Leben
braucht: Ausweis, Geburtsurkunde, Staatsbürgerschaftsnachweis,
Führerschein, Gesundheitszeugnis, Abiturzeugnis, Mietvertrag
. . .
Frau Görlitz sah ihn skeptisch an. Hätte
sie noch ihre Brille gehabt, so wie früher, als es diese Kontaktlinsen
noch nicht gab, da hätte sie diese jetzt zurechtgerückt,
den Kopf ein wenig auf die Seite gelegt und ihren Gegner genau anvisiert.
Jetzt begnügte sie sich damit, sich über die Papiere zu
beugen und zu sagen: "Alles? Na, wir werden ja sehen!"
- D. hatte tatsächlich alles dabei, und die Beamtin wandte
sich dem gewaltigen Büroschrank zu, suchte nach der richtigen
Lade und brachte die schon vorgeschriebene Urkunde zum Vorschein.
"Da ist sie ja. Jetzt brauche ich nur noch die Legitimation
ihrer Frau!" D. schloss einen Moment die Augen. Es wurde finster.
Er öffnete die Augen wieder, er rieb sie sich ausgiebig, aber
es blieb alles, wie es war. Noch immer stand Frau Görlitz vor
ihm und sah ihn fragend an.
"Ich brauche die Urkunde. Heute noch!" sagte
D. "Ich brauche die Befugniserklärung ihrer Frau!"
sagte Görlitz. - "Ich habe mir heute extra freigenommen!"
sagte D. - "Ich bin jeden Tag hier, außer mittwochs.
Da haben wir geschlossen!" D. war verzweifelt: "Sie können
meine Frau doch anrufen! Sie können doch nicht . . . Wissen
Sie, wie lange ich schon warte. Wie lange es gedauert hat, bis ich
das hier überhaupt gefunden . . ."
D. hatte einen roten Kopf, D. wurde laut, und Frau
Görlitz drehte sich um, ging zum Schrank, schob die Urkunde
zurück in die Lade und gab ihr einen kleinen, lässigen,
aber finalen Schubs. "Aus!" dachte D., machte auf dem
Absatz kehrt und war schon wieder draußen auf dem Gang, wo
er in eine ganze Reihe neugieriger Gesichter blickte. Doch dann
drehte er abermals um und betrat freundlich lächelnd zum zweiten
Mal den Raum. Seine Frau könne doch per Fax ihr Einverständnis
erklären. Ein Fax sei rechtskräftig. Er wisse das, er
sei ja auch Beamter.
Frau Görlitz hätte sich die Brille abgenommen,
wenn sie noch eine Brille gehabt hätte. Sie sah ihren plötzlichen
Kollegen neugierig an. Dann sagte sie: "Das ist ja eine gute
Idee! Weshalb sind wir da eigentlich nicht schon früher drauf
gekommen!" D. lächelte, Frau Görlitz drückte
ihm zum Abschied freundlich die Hand und rief ihm noch nach: "Machen
Sie's gut!"
Frankfurter Rundschau - 2002
© Hans W. Korfmann
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