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Beutestücke der unterlegenen Revolution

Herr D. besucht das Mauermuseum und ärgert sich mit Schülern aus dem Westen darüber, dass die Ostdeutschen so schlecht wegkommen

Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton

Herr D. wunderte sich. Erst versuchte man die Spuren der Mauer möglichst schnell und möglichst endgültig aus dem Berliner Stadtbild zu entfernen, und nun wollte Wolfgang Thierse durch einen roten Strich deren einstigen Verlauf markieren und den schändlichen Wall zwischen den Welten wieder sichtbar machen. Selbst, wenn Thierse sich dabei weniger nach der Mauer zurücksehnte wie viele seiner ehemaligen Landsleute, sondern eher jenen Touristen entgegenkommen wollte, die nach der legendären Mauer suchten und sie nicht mehr fanden, kam er damit dem Wunsch der Politiker, die sich nach der politischen endlich auch die mentale Einheit Deutschlands wünschten, nicht eben entgegen. Zwar ließ sich so eine rote Linie leichter überspringen als der anti-imperialistische oder anti-kommunistische Schutzwall, doch eine Demarkationslinie blieb eine Demarkationslinie.

"Die hätten die Mauer stehen lassen sollen", sagte ein rastalockiger Gymnasiast aus Frankfurt am Main, "damit man weiß, was das heißt: so 'ne Mauer in der Stadt." Seine Mitschülerin bohrte nachdenklich in der Nase. "Außerdem lassen die kein gutes Haar an den Ossis. Ich mein' - diese rote Farbe ist einfach zu viel. Es gab da doch nicht nur Mörder und Totschläger."

Die beiden Schüler standen vor einer Karte im Mauermuseum am Checkpoint Charlie. Herr D. hasste Museen. Seit der Schulzeit. Er hatte sich vor dem Regen dort hineingeflüchtet. Die Karte zeichnete den Mauerverlauf mittels schwarzer Kreuze der an der Grenze Gefallenen nach. Während der Westen ein unschuldig weißes Stück Land war, lief von Osten her in dicker roter Ölfarbe das Blut übers Land.

"Oder?", fragte die Schülerin unvermittelt den neben ihr stehenden Herrn D. Dann fügte sie hinzu: "Ach, Entschuldigung!" Und nahm den Finger aus der Nase.

"Doch doch...", sagte Herr D. und gab ihr Recht. Man musste kein Freund Erich Mielkes sein, um sich zu ärgern, wenn über dem ausgestopften Dachs, den der Jäger Mielke "eigenhändig erlegte", der ironische Titel "Wertvolle Beutestücke der siegreichen Revolution" stand. Ein Blick ins Wohnzimmer des großen Befreiers Kohl wäre wahrscheinlich ebenso spießig und kleinbürgerlich gewesen. Und wenn die DDRler vor dem Fall der Mauer die Büste Stalins in Wachs gegossen hatten, dann war das wohl nicht mit dem üblichen sozialistischen Ernst geschehen, sondern eher der Beweis für eine Art Galgenhumor. Mit dem wächsernen Exponat allerdings wollte das Museum nicht den Humor im Osten zeigen, sondern sich über den Osten lustig machen.

Das Mauermuseum war einfach ärgerlich. Ein kleiner, hölzerner Hundekäfig diente als Beweis mangelnder Tierliebe sozialistischer Grenzer und sollte darüber hinaus die Unmenschlichkeit an der Grenze dokumentieren. Die ungebügelten Uniformen der Volkspolizei in den Vitrinen erinnerten nicht, wie sonst in Museen üblich, an Glanz und Ruhm des Militärs, sondern an ein puritanisches Herrschaftsregime. Auch die zweifelhaften Beiträge aus der Boulevardpresse, die neben den großflächigen Fotografien der Flüchtlinge zu lesen waren, hatten nichts mit kritischer Aufarbeitung zu tun, sondern wirkten auch hier noch wie Hetze und Propaganda.

Davon unbeeindruckt bohrte die Schülerin weiter in der Nase und schlenderte zur Leinwand, auf der verwackelte Aufnahmen den Bau des Tunnels 57 zeigten. 145 Meter lang, zwölf Meter tief. 9 Monate karrten sie mit einer hölzernen Lore das ost-westliche Erdreich zu Tage. Dann kamen die glücklichen Mütter, die ihre Kinder in Empfang nahmen, während eine Stimme aus dem Off von Menschen sprach, die mit "bloßen Händen gegen die Maschinenpistolen eines verbrecherischen Systems" ankämpften. "Irgendwie erinnert mich diese Hetze hier an die Nazis!", sagte die Schülerin und nahm den Finger aus der Nase.

Herr D. war kein Freund nostalgischer DDRler, aber über diesen Film hätte er sich ärgern können. Doch Herr D. lächelte. Die Unbekümmertheit und Nüchternheit, mit der die beiden Schüler vor diesem schwierigen Kapitel deutscher Geschichte standen und deren Aufarbeitung im Mauermuseum kommentierten, amüsierte ihn. Doch dort, wo das Museum die waghalsigen Ideen jener zeigte, die sich mit der Mauer nicht abfinden konnten und dem Osten um jeden Preis den Rücken kehren wollten, waren nicht nur die japanischen und amerikanischen Rentner fasziniert. Selbst die angereiste Schulklasse, die 1989 noch am Schnuller lutschte und von Actionfilmen abgehärtet war, kam beim Anblick des winzigen Verstecks im Benzintank eines Fluchtautos oder der Einkaufstasche, in der eine Frau ihr Kind über die Grenze schmuggelte, ins Staunen. "Ganz schön heftig!", sagte die Schülerin und nahm den Finger zum zweiten Mal aus der Nase. Die halbe Klasse stand fasziniert vor dem selbst gebauten Motorsegler mit Trabantmotor, der aussah wie in alten Donald-Duck-Heftchen.

Der Pädagoge mit dem Gamsbart machte einen zufriedenen Eindruck. Das Museum war beeindruckend. Seine Schüler erlebten die Geschichte hautnah. Sie sahen die Drahtseilbahnen, die U-Boote, Faltboote und den Heißluftballon. Oder das winzige Auto mit dem witzigen Namen Isetta, das so klein war, dass kein Grenzposten auf den Gedanken kam, dass darin mehr als zwei Menschen Platz finden könnten. Mit der Sammlung von Fluchtgeschichten und Vehikeln zur Überwindung der Mauer holte das Museum zum entscheidenden Schlag aus. Es verdeutlichte den unbändigen Freiheitsdrang einiger DDR-Bürger. Im letzten Raum endlich feierte man dann die Befreiung. Dort läuft 13 Stunden am Tag ein Video mit dem Titel "Ode an die Freiheit". Es berichtet von der "gewaltlosen Revolution", dem Fall und dem Tanz auf der Mauer. Vom Sieg des Westens über den Osten. Käuflich zu erwerben im Museumsshop.

Frankfurter Rundschau - 2005
© Hans W. Korfmann

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