Herr D., dem Himmel nah
Mit einem echten Berliner beim großen
Konzert im Western Saloon
Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton
Herr D. hatte einen Kollegen, einen Berliner, den
Herrn Bärtels. Herr Bärtels hatte es nicht leicht im Büro,
er war sozusagen ein Exot unter all den Bonnern, Kölnern, Frankfurtern,
den man mit einer gewissen Skepsis behandelte. Herrn D. aber trieb
seine Forschernatur dazu, sich hin und wieder auf ein Gespräch
mit dem Ureinwohner einzulassen, das in aller Regel mit "Almost
Heaven" endete. "Almost Heaven" war eine Band, die
vor allem aus zwei gut aussehenden Frauen bestand, nebst einer männlichen
Gitarrenbegleitung. Kollege Bärtels folgte diesem Trio bis
in die hintersten Winkel Berlins. Er war ein Fan.
Herr D. allerdings war kein Fan von Countrymusik.
Herr D. hielt es mit der Klassik und einigen Oldies aus der Studienzeit.
Aber als die Sekretärin ihm eines Morgens erzählte, dass
der Bärtels sie schon wieder zu so einem Konzert eingeladen
hatte und dass er es heute schon bei jedem im Büro probiert
hätte, da rührte ihn der Missionseifer seines Kollegen.
Also fragte er Bärtels: "Sag, diese Almost Heaven, wann
spielen die denn wieder?" - "Am Wochenende, im Western
Saloon!"
So kam es, dass Herr D. eines Abends mit dem Kollegen
Bärtels ins Märkische Viertel fuhr, das ihm kürzlich
schon durch eine kleine Zeitungsnotiz aufgefallen war. Ein Mann
hatte sich aus dem 13. Stock gestürzt und den Freitod in seinem
Abschiedsbrief damit begründet, dass ihm bereits zum zweiten
Mal die Waschmaschine ausgelaufen sei, er aber noch immer keine
Versicherung abgeschlossen habe.
Sogar im Zentrum fanden sie einen Parkplatz, liefen
an zwei Geschäften mit gewaltigen Fernsehbildschirmen und riesigen
Stereoanlagen vorüber und standen plötzlich vor einem
Zementblock, der den romantischen Namen "Fontanehaus"
trug und so etwas wie das Kulturzentrum des Viertels war, in dem
eine mäßig besuchte Theateraufführung stattfand.
Die großen Metalltüren zum Saal waren mit grüner
oder gelber Ölfarbe bestrichen, ansonsten verschönerten
die Strukturen der hölzernen Schalbretter das naturbelassene
Betongemisch der Wände. Ein Seiteneingang führte zum "American
Western Saloon, The Home Of Chicken".
An der Tür standen eine Indianerfigur mit einigen
Dynamitstangen in der Rechten und drei Männer mit Cowboyhüten,
die sich mit dem DJ Willie über Country unterhielten. Im hinteren
Teil des Saloons kauten die Menschen aus dem Märkischen Viertel
Chicken Wings für 10,50 und tunkten Pommes in Ketchup.
In diesem Moment kam ein Mann auf Herrn D. zu und
lachte. "Ääii, wo haben wir uns denn das letzte Mal
gesehen? In der Eierschale?" Herr D. schüttelte den Kopf.
"Im Yorkschlösschen?" Herr D. schüttelte den
Kopf. Er war sich nicht sicher, ob er diesen Mann vielleicht nicht
wirklich einmal irgendwo getroffen haben könnte. Der gewaltige
Bauch, das karierte Baumwollhemd und die tiefe Stimme verliehen
ihm eine gewisse Glaubwürdigkeit. "Na, ist ja auch egal.
Auf jeden Fall müssen wir was trinken!", sagte der Holzfäller
und wollte Herrn D. zum Tresen mit den zwei Büffelhörnern
und den Plastikhühnern entführen. Aber sein Kollege zog
ihn am Ärmel: "Komm, den kenn ich schon, den kriegen wir
nie wieder los."
Zwei Tische standen vor der Bühne. An einem saßen
zwei Frauen mit langen Haaren und ein Mann mit langen Haaren. An
dem anderen saßen jetzt sie. Herr D. wunderte sich, als die
drei vom Nebentisch plötzlich auf die Bühne stiegen. Sie
hatten weder Cowboystiefel noch Lederröcke, die Kleine trug
Plateauschuhe, die Große etwa fünfzig Armreife und grün
lackierte Fingernägel. Vielleicht kamen sie aus einem dieser
Wohntürme, überlegte Herr D. Aber als dem Langhaarigen
beim ersten Lied die Saite riss und die beiden Frauen a cappella
sangen, musste Herr D. sein Vorurteil über die Countrymusik
revidieren. Die Frauen konnten tatsächlich singen! Sie waren
geradezu virtuos. Und das hier, am Rand der Stadt, in der Betonwüste.
"Ist die nicht toll", sagte Herr Ds Kollege
und strahlte mit glänzenden Augen die Frontfrau mit der Mandoline
an. Herr D. nickte. "Und du verpasst kein einziges Konzert?"
- "Keins", sagte Kollege Bärtels. Herr D. nickte.
"Du bist ja ein wahrer Fan", sagte Herr D. "Bin ich",
sagte der Kollege.
Aber er war der einzige im Saal. Die meisten im Saloon
waren damit beschäftigt, Fleisch von den dürren Chickenwings
zu nagen. Selbst die Fußzehen der drei Cowboys bei DJ Willie
waren in den eleganten Spitzen ihrer Stiefel abgestorben und zeigten
eine ähnliche Vitalität wie die Indianerpuppe neben dem
Eingang. Selbst als "Almost Heaven" gegen Mitternacht
"Sunny Afternoon" von den Kinks spielte, zeigte sich nicht
die Spur eines Lächelns auf den ernsten Gesichtern.
Vier Stunden lang hörte Herr D. mit seinem Kollegen
Lieder von Johnny Cash, Neill Young, James Taylor und am Ende "Time
To Die" von Peter Jakk. "Sag mal, ist dir eigentlich aufgefallen,
dass fast in jedem Lied einer gestorben ist?", bemerkte Herr
D. auf dem Heimweg. "So ist das eben im Western", sagte
Kollege Bärtels. "Oder im Märkischen Viertel",
dachte Herr D., am Rand von Berlin.
Frankfurter Rundschau - 2002
© Hans W. Korfmann
zurück
|
|