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Der 140er muss bleiben

Herr D. geht auf eine Kreuzberger Kreuzung und harrt der Revolte

Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton

Nicht, dass Herr D. den 140er liebte. Im Gegenteil, er ärgerte sich ständig über die taktlosen Verspätungen und die rüden Manieren der Busfahrer. Aber als er am Kiosk bei der Dicken seine Zeitung holen wollte und die Unterschriftenliste dort liegen sah, ärgerte er sich noch mehr. Der 140er sollte gestrichen werden, und die Kreuzberger rebellierten. "Klauen ist verboten, zumindest was uns betrifft. Der Staat dagegen darf alles. Jetzt will man uns den Bus klauen, der 140er soll eingestellt beziehungsweise mit verkürzter Streckenführung weiterbetrieben werden. Pfui, und nochmals pfui!" Sofort unterschrieb auch Herr D. das Schreiben an den Verkehrssenator.

Genaues wusste die Zeitungsverkäuferin jedoch nicht zu berichten. Nur, dass schon einige hundert Anwohner fluchend ihre Unterschrift unter das Protestschreiben gesetzt hatten. Auch sie war der festen Überzeugung, dass die Bushaltestelle vor ihrer Haustüre ihr gutes Recht sei, und Herr D. verstand nach einem Seitenblick auf ihre geschwollenen unteren Gliedmaßen ihre berechtigte, wenn auch sehr persönliche Sorge. Einige Wochen später aber erfuhr er aus dem Lokalblättchen, das sich immer wieder in seinem Briefkasten fand, dass die Aufregung der zur Rebellion neigenden Kreuzberger wohl etwas voreilig gewesen war. Im Grunde betraf die Streckenkürzung die protestierenden Anwohner kaum, denn lediglich das letzte Stück der kurvenreichen Strecke ins wenig attraktive Tempelhof sollte gekappt werden. Die Haltestelle der Protestierenden blieb erhalten.

Doch einmal auf die Barrikaden gestiegen, kletterten die Kreuzberger so schnell nicht wieder herunter. Der spitzfindige Redakteur eines Lokalblättchens hatte sorgfältig recherchiert und herausgefunden, dass die berühmt-berüchtigten Fahrgastbefragungen im Fall des 140ers zumindest zum Teil erst nach dem längst gefassten Beschluss der Streckenkürzung durchgeführt wurden, und kommentierte: "Ein demokratisches Feigenblatt, nachträglich vor der Scham baumelnd?" Außerdem fand der Redakteur heraus, dass im Herbst eine umfassendere Streckenänderung im Fahrplan der Berliner Verkehrsbetriebe vorgesehen sei und dass neben den "BVG-Direktoren, deren herausragende Kompetenz mit 143 000 bis 191 000 Euro im Jahr vergütet wird", seit einiger Zeit auch "Roland Bergers Beraterfirma" an einem neuen Konzept für die marode Verkehrsgesellschaft Berlins feile. Ob die hoch dotierten Manager Bergers "jedoch so erfolgreich sein werden wie zuvor bei der Bundeswehr, der Bundesagentur für Arbeit oder der Bankgesellschaft Berlin", wollte der Redakteur des Lokalblättchens nicht voraussagen. "Sicher sei nur ihre Bezahlung - aus Steuer-Euros und BVG-Fahrgeldern der Berliner."

Bei so viel verbalem Sprengstoff konnte der Aufruf zum öffentlichen Protest nicht ausbleiben. Am 20. April Punkt 16 Uhr wollte man eine Kreuzung in Kreuzberg blockieren, um auf die fahrgastverachtende Politik der Berliner Verkehrsbetriebe aufmerksam zu machen.

Krankentransport
Die Rentner waren p ünktlich wie immer. Auch die beiden Muslime mit den Kopftüchern und die Rollstuhlfahrerin. Zehn Minuten vor vier standen die Rebellierenden in kleinen Grüppchen gleichmäßig auf alle vier Ecken der Kreuzung verteilt und warteten plaudernd darauf, dass etwas geschehe. Die Erwartungen der Polizei dagegen hielten sich in Grenzen, lediglich zwei Streifenwagen hatten auf dem Gehweg geparkt, daneben ein Aufsichtswagen der BVG und zwei Kontaktbereichsbeamte in grünen Strickpullovern, die sich die Zeit damit vertrieben, Fahrradfahrer auf den Gehsteigen zum Absteigen zu ermahnen und Frauen in sommerlicher Kleidung nachzuschauen.

Von der Kreuzberger Revolte fand Herr D. keine Spur. Selbst als der Initiator des Protestes auf die Mauer stieg und das Mikrofon einschaltete, rückten die im Demonstrieren ungeübten Rentner nur zaghaft zusammen. Und während sich der Redner mit dem Baseballkäppi, dem Bierbauch und der Krücke unter dem Arm darüber beschwerte, dass die BVG mehr verdient hätte als nur hundert Protestler, begannen die alten Damen und Herren bereits mit dem üblichen Gedankenaustausch über Arthrose und Praxisgebühren. Herr D. verstand: Was die Menschen auf der Kreuzberger Kreuzung verband, war nicht der Protest gegen die Verkehrspolitik des Senats, sondern der gemeinsame Weg zum St.-Joseph-Krankenhaus, das auf der gestrichenen Linie des 140ers lag.

Zehn Minuten nach vier verließen die Streifenwagen die Kreuzung. Lediglich die in die Jahre gekommenen Kontaktbereichsbeamten blieben noch ein bisschen: "Ein Glück, dass wir am 1. Mai nicht mehr dabei sein müssen." - "Nee, das hier ist genau das Richtige für uns."

Um Viertel nach vier räumte schließlich auch die Aufsicht der BVG das Kampffeld. Widerstand gegen die Staatsgewalt oder die Verkehrsbetriebe war nicht zu erwarten. Dazu gehörte eben mehr als nur Arthrose oder die dicken Beine einer Zigarettenverkäuferin.

Frankfurter Rundschau - 2004
© Hans W. Korfmann

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