Der Velo-Veterinär
Herr D. sucht sein bewegliches Eigentum zu schützen
Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton
Herr D. hatte ein gewisses Verständnis. Für die Armen.
Deshalb tolerierte er die Schwarzarbeit. Deshalb entrichtete er
seinen täglichen Obolus an die Bettler. Deshalb verteidigte er
die Obdachlosen in den geheizten Kaufhäusern vor übereifrigen Verkäufern. Sogar für Diebstahl hatte er ein
gewisses Verständnis. Doch auch die während vieler Jahre
gewachsene Toleranz des Herrn D. hatte ihre Grenzen.
Herr D. hatte beim Bezirksamt vorsprechen sollen, bei einer
gewissen Frau Waas, Zimmernummer 434. Er wollte das auf
dem Heimweg erledigen, Punkt 15 Uhr 51 parkte er sein
Fahrrad zwischen einem Heer anderer Fahrräder, wie er es
sonst nur vom Freibad her kannte, wühlte sich durch das Heer
der Sozialhilfeempfänger, das den Gang verstopfte, und klopfte
bei Zimmernummer 434. "Waaas?", kam die Stimme durch die
Sperrholztür, "wir haben Feierabend!" Herr D. drückte die
Klinke herunter, aber die Tür war bereits verriegelt. "Ich
komme von der Arbeit", rief Herr D., "ich kann mir nicht extra
freinehmen, wir haben zu viel zu tun."- "Dann seien Sie froh",
antwortete Frau Waas.
Herr D. hatte ein gewisses Verständnis. Also bahnte er sich
gesenkten Hauptes den Weg an jenen vorbei, die nichts mehr
zu tun hatten. Doch als er sich draußen auf sein geliebtes
Fahrrad schwingen wollte, war es nicht mehr da. Er
durchsuchte den gesamten Parkplatz, doch sein Fahrrad blieb
verschwunden. Herr D. hatte kein Verständnis mehr. Wütend
lief er zur Pförtnerin, die von ihrem Fenster aus einen gutenÜberblick auf das Geschehen haben musste. "Haben Sie
zufällig gesehen, wer mein Fahrrad hier abgeschleppt hat?" Die Frau schüttelte den Kopf. "Kommt das hier öfter vor?" Die
Frau nickte. "Wieso kann man denn da auf der anderen Seite
nicht ein paar Polizisten in Zivil hinstellen, wenn das so oft
vorkommt? Können Sie mir das sagen?" Die Frau sah kurz auf
ihre Uhr und hob die Schultern: "Ich habe zu viel zu tun." - "Dann seien Sie froh", rief Herr D. wütend und machte sich zu
Fuß auf den Heimweg.
Herr D. hatte kein Verständnis für Diebe, wenn es um sein
Fahrrad ging. Es war bereits das fünfte, seit er in Berlin war.
Und selbst wenn es den Burschen hier schlecht ging: Das war
doch eine Frechheit, sich da hinzustellen, abzuwarten, bis
einer vom Rad steigt und im endlosen Labyrinth des Rathauses
untertaucht, um sich dann in aller Seelenruhe ans Handwerk
zu machen. Das waren Profis. Womöglich verdienten die mehr
als er. Und die Polizei hatte nichts Besseres zu tun als mit 30
Motorrädern die Limousine seines Chefs zu eskortieren.
Herr D. verzichtete auf ein neues Fahrrad. Einige Tage lang.
Dann war der Ärger verflogen. An einem strahlenden
Samstagmorgen saß er auf einem leise surrenden Herrenrad,
ausgestattet mit fünf Gängen und drei verschiedenen
Schlössern. Das Rad war schnell, lediglich das Anketten nahm
eine gewisse Zeit in Anspruch. "Na, Sie traun sich ja was",
meinte Schulz, der Herrn D. bei der umständlichen Prozedur im
Hof beobachtete. "Drei Schlösser", sagte Herr D., "das wird ja
wohl abschrecken." - "Hilft alles nichts", sagte Herr Schulz, "Sie
brauchen einen Chip." - "Was für einen Chip?" Schulz erklärte.
Am nächsten Tag nach Feierabend ging Herr D. nicht zu Frau
Waas, sondern in die Praxis zu Frau Siebel.
"Na, wo ist er denn, der kleine Liebling?", fragte sie, ohne von
ihrem Bildschirm aufzublicken. "Der steht noch draußen, dreimal
angekettet", antwortete Herr D. Frau Siebel sah entsetzt auf
und musterte das vermeintliche Hundeherrchen: "Draußen
angekettet? Das grenzt ja an Tierquälerei." Die Veterinärin bat
Herrn D., den Patienten doch bitte ins Behandlungszimmer zu
bringen. "Oder haben Sie einen Elefanten da draußen?" - "Nein, ein Fahrrad", antwortete Herr D. und versuchte zu
erklären, dass er so einen Chip mit Sender brauche, wie man
ihn Sträflingen in Amerika und Katzen und Hunden in
Deutschland einpflanze, um die Entlaufenen wieder
einzufangen. "Ich habe gehört, man könne für 20 Euro so
einen Chip kaufen, der bei Bedarf Signale abgibt und den
genauen Standort des Chipträgers verrät. Mein Nachbar hat
auf diese Weise schon zwei Fahrraddiebe gestellt."
"Das geht nicht", antwortete die Tierärztin. "Ein Fahrrad ist
doch keine Katze." - "Aber das ist doch egal", sagte Herr D. "Ich hänge an meinem Fahrrad so wie andere an ihrer Katze
oder ihrem Hund." - "Ausgeschlossen", sagte die Tierärztin. "Ein Fahrrad ist doch kein Tier. Sie können doch einem Fahrrad
keinen Chip umbinden."
Frau Siebel dozierte. Endlich hatte die Menschheit etwas zum
Wohle der Tiere und ihrer Tierhalter erfunden, schon sollte es
verkommerzialisiert werden. "Das ist Missbrauch. Dafür ist das
System doch nicht vorgesehen. Stellen Sie sich mal vor, jedes
Fahrrad und jedes Auto wären mit einem solchen Sender
ausgestattet. Wo wir da hinkämen. Die Welt ist doch jetzt
schon verstrahlt."
Selbst als Herr D. zärtlich von seinem alten Drahtesel zu
sprechen begann, schüttelte Frau Doktor Siebel energisch das
Medizinerhaupt. Auch die anderen Veterinäre, bei denen Herr
D. vorstellig wurde, weigerten sich. Erst, als er von seinem
altersschwachen Dackel Charly sprach, der kaum mehr laufen
könne und deshalb daheim geblieben sei, fand sich einer
bereit, Herrn D. zu helfen. "Obwohl ich ja nicht ganz verstehe,
weshalb sie für ihren lahmen Charly überhaupt noch so einen
Chip brauchen." - "Das ist eben Liebe", sagte Herr D.
Frankfurter Rundschau - 2004
© Hans W. Korfmann
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