Die Griechen müssen verrückt sein
Herr D., eigentlich alles andere als ein EM-Begeisterter, lässt sich im neuen Mutterland des Fußballs von der Euphorie anstecken
Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton
Herr D. hielt nicht viel vom Sport. Herr D. hielt etwas von Urlaub. Doch der Sport verfolgte ihn selbst bis in ein kleines Dorf auf Kreta.
Es war Abend, Herr D. wartete aufs Essen, hinter sich das blaue Meer und die untergehende Sonne, vor sich das Glas Wein. Jorgos, der Wirt, stand schwitzend vor der Glut des Grills und erzählte mit gleichem Erfolg die gleichen Witze wie im vergangenen Jahr. Herr D. empfand Zufriedenheit. Bis der Wirt kam, eine Hand auf Herrn D.s Schulter legte und mit der anderen voller Stolz auf den neuen Fernseher deutete. Er thronte auf einem fahrbaren Schrank in der Ecke unter der Weinlaube. Für die kleine Stufe von der Terrasse ins Innere des Kafenions hatte er eine kleine Rampe konstruiert, um den Bildschirm samt Sockel bei Bedarf hinein- oder hinauszufahren. Auf einem Pappkarton stand: "EM 2004 - Jeden Abend hier!!"
Jorgos verstand sein Geschäft. Allmählich füllte sich die Terrasse mit Deutschen, Schweden, Holländern. Neugierig näherten sich auch einige Griechen. So viele Touristen auf einem Haufen hatten sie in diesem Jahr noch nicht gesehen. Sie erkundigten sich, wer gegen wen spiele, wo das Spiel stattfinde, um was es ginge, und sie setzten sich erst, als die griechische Nationalhymne ertönte. Doch als in der siebenten Minute Karagounis das erste Tor der Europameisterschaft schoss und der Reporter: "Tor, Tor, Tor" schrie, verwandelten sich die Männer, die sonst nur über Fische, Schafe und Olivenbäume sprachen, in Fußballfans. Berührte ein Grieche den Ball, quietschten die Stühle auf der Terrasse, bewegte sich die Mannschaft aufs Tor zu, rückten auch sie näher an den Bildschirm, und kam ein Grieche zum Schuss, drehten sie sich mit einem Blick nach den Holländern, Schweden und Deutschen um, der sagte: "Seht ihr, so spielt man Fußball!"
Herr D. verstand weder die plötzliche Aufregung im stillen Urlaubsort noch den aufgeregten Reporter, der mit den langsilbigen Worten der griechischen Sprache versuchte, dem Ball zu folgen. Am Ende der zweiten Halbzeit aber hatte auch Herr D. verstanden, dass "Oddorechaagel" ein Deutscher und Trainer der Griechen ist und dass die Teilnahme der Griechen am Turnier eine kleine und der Sieg über Portugal eine große Sensation war, die die Herzen der Nation bewegte. Als am nächsten Abend Zidane den Ball 50 Meter über das Tor schoss, kommentierten die neuen Fußballfans: "Da braucht man eben Karagounis!", und über Beckham, der den Elfmeter verschoss, spotteten sie: "Dem schlottern doch die Knie vor Angst!" Eigentlich mochte Herr D. keinen Fußball. Aber er begann sich an ihn zu gewöhnen, ließ keinen Abend bei Jorgos mehr aus und war am Tag seiner Abreise tatsächlich froh darüber, dass auf sämtlichen Bildschirmen der Fähre das gleiche Programm lief und es noch Sitzplätze gab.
"Wie steht's?" riefen die, die zu spät kamen, und das halbe Schiff antwortete: "Eins zu null für Spanien." Schon wurden die ersten Zuschauer skeptisch, bezeichneten Rehhagels Erfolgsmannschaft als "Kafenion" oder Kaffeekränzchen, während sie die faulenden Spanier als Lügner, Ochsen und Esel beschimpften und den Schieds- und Linienrichtern völlige Blindheit attestierten. Als endlich der Ausgleich geschaffen wurde, sprangen alle Männer an Bord synchron in die Höhe. Herr D. warf einen besorgten Blick nach dem Horizont, doch der war ordnungsgemäß an seinem Platz. Das Spiel gewann an Dramatik, zumindest an Bord. Bei jedem Angriff der Spanier schlugen die Griechen gemeinschaftlich die Hände über dem Kopf zusammen, bei jedem verpatzten Torschuss der Hellenen riefen sie die heilige Jungfrau an. Die letzten Minuten des Schauspiels verfolgte die Gemeinde der Fans schweigend, nur die Rosenkränze rasselten, einige knieten schon auf dem Teppich, als beteten sie um ein baldiges Ende. Als endlich der Schlusspfiff kam, sah man sogar Herrn D. jubeln.
Wieder in Berlin beeilte er sich, zu "seinem Griechen" zu kommen. Es war Sonntag, Griechenland stand vor dem Viertelfinale. Das Lokal war voll, den Fernseher flankierten eine griechische und eine deutsche Flagge, unter ihm stand wie ein Altar ein Tisch mit Kerze und einem Bild Otto Rehhagels. An den Wänden, zwischen den Ikonen von Che Guevara, Aris Velouchiotis, Marx und Andreas Papandreou, hing Otto. Das ganze Lokal war voller Ottos. Und das ganze Lokal tobte, als endlich das griechische Tor fiel. Kinder in weiß-blauer Kriegsbemalung drehten Rasseln, Frauen kreischten schrill und orgiastisch, und der Wirt warf nach guter Sitte einige Teller und Gläser zu Boden. Dann spendierte er eine Lokalrunde und sagte zu Herrn D.: "Mit Otto wären sogar die Deutschen Europameister geworden!"
Herr D. verstand nichts von Fußball. So wenig wie Jorgos und die anderen Männer am Meer. Selbst die griechischen Fußballer schienen an diesem Abend nicht viel von Fußball zu verstehen. Sie stolperten und ihre Schüsse kullerten dahin wie Murmeln im Sand, doch die Exilgriechen jubelten und feierten. Selbst als Rehhagel nach der siegreichen Niederlage meinte, dass die Griechen mit dem Erreichen des Viertelfinales wohl den Olymp bestiegen hätten und dass seine Mannschaft "den Fußball nicht erfunden" hätte, tröteten und grölten sie. Und als Herr D. endlich sein Souflaki bekam, standen sie noch immer auf den Stühlen und skandierten: "Otto, Otto, Otto, Otto..."
Frankfurter Rundschau - 2004
© Hans W. Korfmann
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