Entzugserscheinungen
Herr D. raucht, Herr D. raucht nicht mehr, Herr D. raucht wieder
Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton
"4 Euro 60! Das musst du dir mal geben! Dafür bekomme ich
ein Gramm Haschisch! Eine Packung Camel ist doch kein
Rauschgift. Und das ist noch nicht das Ende. Irgendwann
kostet das Päckchen zehn Euro, und für das Rauchen in öffentlichen Parkanlagen wird ein Bußgeld von 200 Euro
erhoben", sagte ein hagerer Mann, der eine Kippe nach der
anderen rauchte und so grau war wie Zigarettendunst.
Eigentlich standen in D.'s Kneipe nur Taxifahrer, und zwar 24
Stunden den Tag. Die meisten kamen so gegen zwei, halb drei
Uhr morgens herein. So wie heute auch Herr D. Er hatte nicht
schlafen können und das Bett wieder verlassen. Jetzt wartete
er auf sein Bier, während die Berliner Chauffeure über
Zigarettenpreise diskutierten.
"Amerika lässt grüßen!" - "Nee, in Amerika sind die Kippen nicht
teuer. Nur Lungenkrebs ist teuer. Für die Kranken und für die
Tabakkonzerne." - "Jedenfalls: Wenn die Kippen heute in
Frankreich 4,60 kosten, dann kosten sie morgen bei uns einen
Fünfer. Uns geht es doch nur noch darum, die Finanzlöcher zu
stopfen. Von wegen Krebsvorsorge! Quatsch! Ich kenne einen,
der hat aufgehört zu rauchen, und eine Woche später hatte er
einen Herzkasper. Und der Arzt sagte zu ihm: Sie hätten die
Zigaretten nicht so abrupt absetzen dürfen. Nikotin ist nämlich
ein Nervengift!"
Herr D. klapperte nervös mit den Fingern auf dem Tresen, das
Bier war immer noch nicht da. Er sah zu dem Redner hinüber,
ein Schwergewicht, wahrscheinlich ein ehemaliger LKW-Fahrer,
der sich aufs Taxifahren verlegt hatte, weil er auf der
Landstraße fünf Päckchen am Tag rauchte. "Und ich, ich habe
früher fünf Päckchen geraucht. Dann habe ich aufgehört, und
jetzt wiege ich 120 Kilo", sagte der ehemalige LKW-Fahrer. -"Also, ich gehe das Risiko jedenfalls jetzt nicht mehr ein. Ich
habe dreißig Jahre geraucht, wenn ich aufhöre, kippe ich tot
um", sagte der Dünne.
Herr D. murmelte etwas vor sich hin, das sich wie "Blödsinn" oder "Schwachsinn" anhörte. Aber niemand reagierte.
"Na klar ist das gefährlich. Aber keiner spricht darüber, was für
Gefahren das mit sich bringt, wenn einer plötzlich mit dem
Rauchen aufhört. Weil er es nicht mehr bezahlen kann. Oder
weil er es nicht mehr aushält, wenn ihn die Leute ständig
komisch ansehen, nur weil er sich eine Zigarette anzündet. Hat
schon einmal jemand etwas von den seelischen Qualen eines
Rauchers erzählt? Hat schon irgendjemand Einspruch wegen
seelischer Grausamkeit erhoben? Nicht mal in Amerika."
"Na endlich", sagte Herr D. Die Kellnerin schob das Bier
herüber. "Wurde auch Zeit."
"Genau. Die Zeitungen sind voll von Statistiken, die belegen,
wie schädlich das Rauchen ist. Aber keine Statistik darüber,
wie viele der neuen Nichtraucher sich schon das Leben
genommen haben. Und ich sage dir, das sind nicht wenige.
Jeder Junkie bekommt seelischen Beistand, jeder Alkoholiker.
Aber um die Nikotinsüchtigen kümmert sich niemand."
"Stimmt", murmelte Herr D. Aber keiner hörte ihn. Irgendwie
war er heute nur Statist.
"Dafür ist kein Geld da. Mein Vater liegt gerade im
Krankenhaus. Im Ärztezimmer! Weil kein Bett mehr frei war!
Vor zwei Jahren haben sie die Krankenhäuser geschlossen,
weil sie nicht ausgelastet waren. Jetzt sind sie offensichtlich überlastet. Können sie wieder neue bauen. Kurbelt die
Wirtschaft an. Haha."
"Du kommst immer vom Thema ab." - "Nee, mein Vater hat
Lungenkrebs! Stuyvesant." - "Ach so." -
"Na also", sagte kleinlaut Herr D. Aber keiner der Raucher
reagierte.
"Lungenkrebs, naja. Aber wenigstens einer, der pünktlich
stirbt. Stell dir vor, es würden jetzt alle aufhören zu rauchen.
Da stiege doch die Lebenserwartung spontan noch mal um
zwanzig Jahre. Wer soll denn die Rentner alle bezahlen?" - "Na, dann kostet das Bier in Zukunft eben acht Euro." - "So
eine Zukunft will ich nicht." - "Also, ich habe es kürzlich mal
probiert", sagte nun der Dünne und steckte sich eine an. "Aber
es war die Hölle. Am ersten Tag ging es noch. Am zweiten bin
ich wie ein Tiger im Käfig auf und ab gegangen. Und ständig
habe ich mir den Kopf gestoßen, in der eigenen Wohnung, die
ich seit dreißig Jahren kenne. Und schlafen konnte ich auch
nicht mehr. In der dritten Nacht bin ich runter in die Kneipe und
habe mir eine angesteckt."
"Könnte ich mal eine Zigarette haben?", fragte Herr D.
kleinlaut. - "Natürlich", sagte der Dünne. "Aber was ist denn
heute los mit dir?" - "Ich habe aufgehört. Vor einer Woche. Die
Hölle! Kann nachts nicht schlafen und tags nichts mehr
arbeiten. Ich fand nichts mehr, keine einzige Akte. Ich hole sie
raus, lege sie auf den Tisch, und sie verschwindet. Spurlos.
Taucht nie wieder auf. Ich habe jeden Winkel dieses
verdammten Büros durchsucht, bin auf dem Boden
herumgekrochen, habe dabei das Telefon heruntergerissen,
die Lampe umgeworfen, das Büro sah furchtbar aus! Und als
der Drucker wieder mal nicht ansprang, habe ich ihm einen Tritt
versetzt. Ich schätze den Schaden auf 400 Euro."
Herr D. zog lang und genüsslich an der Zigarette und lächelte.
"Das hat auch noch niemand berechnet, was das kostet, wenn
einer aufhört. Diese ganzen zerstörten
Wohnungseinrichtungen, die Körperverletzungen, die
Arbeitsausfälle ...", sagte der Dünne.
Herr D. nickte stürmisch. "Mein Computer ist auch schon
vollkommen fertig, da geht nichts mehr. Muss ein Fachmann
ran. Und die Kaffeemaschine, fast verglüht. Und mein
Philodendron. Seit ich in diesem Büro arbeite, hat er da in der
Ecke gestanden. Jetzt ist da gähnende Leere, noch ein paar
Erdkrümel in der Ecke. Und dann das Schlimmste ist: Ich hab
mich schon mit zwei meiner besten Kollegen zerstritten.
Wegen nichts. Nichts! Die wollen nie wieder ein Wort mit mir
reden, haben sie gesagt. Ich sei ein Choleriker, haben sie
gesagt."
Alle am Tresen lauschten den Ausführungen des Herrn D. Es
war, als sei er aus der Statistenecke heraus endlich in die
wohlverdiente Hauptrolle geschlüpft. Als sei ein dem Tode
Geweihter wieder ins Leben zurückgetreten.
Frankfurter Rundschau - 2003
© Hans W. Korfmann
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