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Herr D. fährt in den Mai

Kreuzberg ist morgens ruhig, macht aber mulmig, und im Osten ist ein Volksfest

Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton

D. konnte sich noch genau erinnern. Wie die Zeitungen damals Stimmung zu machen versuchten, für Bonn oder gegen Bonn, für Berlin oder gegen Berlin. Und wie der Bonner Generalanzeiger über den 1. Mai berichtet hatte, über dieses wilde Kreuzberg, in dem die Zeit offenbar in den siebziger Jahren stehen geblieben war und das quasi in unmittelbarer Nachbarschaft des Regierungsviertels lag.

Doch D. wusste, dass nicht alles stimmte, was die Zeitungen so schrieben, und deshalb machte er sich am 1. Mai auf den Weg, um durch die Stadt zu radeln. Erstes Etappenziel war die berüchtigte Oranienstraße. Doch D. war viel zu früh. Die Kreuzberger standen vor 10 nicht auf. D. war schon vier, fünf Straßen weit gefahren, ohne irgendeinem Menschen begegnet zu sein. Er konnte mit seinem Rad die gesamte Straßenbreite nutzen, und D. verspürte eine seltene Freiheit, radelte fröhlich über das frisch polierte Kopfsteinpflaster, die Asphaltspuren lagen glänzend unter der klaren Maisonne, und das Grün der Blätter an den Bäumen war so kräftig und appetitlich wie das der Gemüseabteilung von Karstadt.

Es war ein wunderbarer Maimorgen, und es lag ein seltener Frieden über dem Viertel, sogar in der wuseligen Oranienstraße war es ruhig, nur an den Tischen einiger Cafés saßen winzige Grüppchen junger Menschen in der Sonne und frühstückten mit großen Zeitungen und weich gekochten Frühstückseiern. Auch vor den ersten Polizeiautos, die am Straßenrand geparkt waren, standen die Polizisten noch mit freundlichen Gesichtern und Pappbechern dampfenden Kaffees in der Hand, blinzelten in die Sonne und versuchten die Buchstaben auf dem Transparent zu lesen, das man von Dach zu Dach über die Straße gespannt hatte.

Die ersten roten Fahnen tauchten auf und wehten lustig zwischen dem Grün der Kastanien vom Oranienplatz, zwei Mädchen in Springerstiefeln scherzten mit den staatlichen Streitkräften, und Anhänger einer offensichtlich kurdischen Demonstrationsfraktion fragten bei den grün bekleideten Beamten um ein Stück Schnur zum Befestigen des Transparents an. Schon wollte ein friedvoller Polizist im Wagen zu suchen beginnen, als der andere Kollege lächelnd den Kopf schüttelte. "Wir haben keine Schnur!" D. betrachtete nachdenklich die gewaltigen, austronautentauglichen Helme, die hinter den vergitterten Scheiben des Einsatzfahrzeugs lagen. Aus irgendeinem Fenster erklang ein Lied, das D. vor vielen Jahren schon einmal gehört hatte: "Der Mariannenplatz war blau, so viel Bullen waren da . . ."

Dass der 1. Mai kein lustiges Volksfest und der Frieden ein trügerischer war, erfuhr D., als er sich in die Nähe der Bundesdruckerei verirrte. Der Beamte D. sah nicht eben aus wie ein Autonomer, dennoch verlangsamte er angesichts der Polizeistreife sein Tempo rapid. Das war die falsche Reaktion, D., der zu diesem Zeitpunkt womöglich einzige Verkehrsteilnehmer in ganz Kreuzberg, musste anhalten. "Guten Morgen, Ihre Ausweispapiere bitte!" Dann untersuchten sie wortlos den Inhalt seines Gepäckträgerkörbchens mit der Zeitung und der Wasserflasche, und während die Beamten froh waren, überhaupt jemanden durchsuchen zu können und nicht vollkommen auf verlorenem Posten zu stehen, beobachtete Herr D., dass es auch im Innenhof der hermetisch abgeriegelten Druckerei grünte: Etwa zwanzig frisch polierte Polizeifahrzeuge waren hinter dem hohen Gitter stationiert, und durch das Sicherheitstor richteten sich zwei Wasserwerfer auf ihn.

D. hatte den 1. Mai immer nur im Fernsehen, nie von dieser Seite aus betrachtet. Und irgendwie wurde ihm ein bisschen mulmig angesichts der schweren Geschütze, die man da aufgefahren hatte. Während er weiter Richtung Osten fuhr und überall in den Seitenstraßen versteckte Polizeistützpunkte entdeckte, wurde ihm allmählich klar, dass ganz Kreuzberg eingekesselt war. Und dass das ein Hexenkessel werden konnte.

D. dachte an den Nahen Osten, er wollte so schnell wie möglich raus aus dem Westen und rüber in den Osten. Dort würde alles anders sein. Und tatsächlich, kaum hatte er die Grenze zur ehemaligen DDR überschritten, da änderte sich das Bild, belebten sich die Straßen. Im Osten stand man eben früher auf als im Westen. Vor dem Roten Rathaus zogen die vereinzelten Schutzmänner schon ihre Jacken aus und erklärten in Hemdsärmeln den Passanten den Weg. Ihr Zelt hatten sie mit zwei lächelnden Polizistinnen und einer Polizeifahne geschmückt, gleich neben dem Bratwurstgrill und dem Bierausschank. Luftballons stiegen in den wolkenlosen Maihimmel, Kinder mit weißen Kniestrümpfen gingen brav an der Hand ihrer Eltern, dicke Gewerkschafter verteilten Flugblätter, es wurde ein wenig diskutiert und viel Bier getrunken, und zu alledem spielte eine Band "I can get no satisfaction". Danach blies eine Blaskapelle den Ostberlinern den Marsch.

Komisch, dachte Herr D., dass ausgerechnet im Osten der 1. Mai so friedlich und bedeutungslos war wie ein österreichisches Feuerwehrfest. Schon dachte er daran, wieder in den Westen zurück zu fahren. Aber dann erinnerte er sich der Kontrollen und dass sie ihn bestimmt nicht noch einmal passieren lassen würden - ein so verdächtiges Objekt wie diesen Fünfzigjährigen auf seinem Fahrrad.

Frankfurter Rundschau - 2002
© Hans W. Korfmann

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