Herr D. fährt in die Parade
Kleine Begegnung mit einem Raver-Girl vorm Kaufhof des Ostens am Alexanderplatz
Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton
Man hatte ihm den Alexanderplatz empfohlen. Zwar sei der Platz noch so öde wie zu sozialistischen Zeiten, und bis heute hätten sich kaum Geschäfte am berühmtesten aller Berliner Plätze angesiedelt, aber immerhin habe nach der Wende ein Kaufhof eröffnet, der einzige von Berlin übrigens, und dort würde Herr D. die Schuhe finden, die er suche. Wahrscheinlich sei das Einkaufen im Herzen Ostberlins sogar etwas preisgünstiger als im Westen, denn die Einführung des Euro sei für die alten DDR-Bewohner nach Ostmark und D-Mark immerhin die dritte Währungsänderung innerhalb des letzten halben Jahrhunderts, und man habe bereits eine gewisse Routine im Umrechnen entwickelt.
Als D. unter den Linden entlangradelte und ihm kleine Gruppen bunt gekleideter Schlachtenbummler mit den Trillerpfeifen entgegenkamen, erinnerte er sich der Erzählung eines Kollegen, der Anfang der neunziger Jahre zum ersten Mal seine Mutter in Berlin empfing und mit ihr den Ku'damm entlangschlenderte, bis die Polizei kam und die Straße absperrte. Jetzt würde die Mutter Berlin erleben, dachte der Kollege, die Stadt der Demonstrationen und Straßenschlachten, und positionierte sich mit der Mutter an der Hand am Straßenrand.
Doch die Demonstration bestand aus einer Hundertschaft bunt gekleideter Männer und Frauen, die mit Dildos in der Hand, Sonnenblumen auf dem Kopf und Trillerpfeifen statt der Dutschke-Ära die Flower-Power-Revolution herbeipfeifen wollten und zur Technomusik eines Lautsprecherwagens tanzten. Sogar die Polizisten lächelten friedlich, und der Kollege war enttäuscht. Seine Mutter dagegen war glücklich, als ein junger Mann mit nacktem Oberkörper auf sie zutanzte und ihr eine Rose und einen Kuss verehrte.
Das war die 2. Loveparade aller Zeiten gewesen, und die Mutter des Kollegen meinte, Berlin sei aber eine lustige Stadt. Auch heute war sie wieder lustig, dachte D. auf seinem Fahrrad, der sich schon dreimal umgesehen hatte, weil er glaubte, ein Polizist habe in die Trillerpfeife geblasen, um seine gefährliche Slalomfahrt auf dem Bürgersteig zu ahnden. Aber dann stand er glücklich am Alexanderplatz, der gar nicht so grau war, wie der Kollege mit dem Einkaufstipp ihm prophezeit hatte. Nein, der Alex war so bunt wie Köln am Rosenmontag, die Männer waren betrunken und die Mädchen trugen kurze Röcke und Federn auf dem Kopf.
Die kamen wahrscheinlich von "Santana Jeans", auf dessen Kleiderständern keine Jeans, sondern Hosen aus Alufolie und Hemdchen aus Glitzerstoffen im Winde wehten. Sogar der Kaufhof hatte sich mit Girlanden und Federboas geschmückt, gleich am Eingang empfing man die potenzielle Kundschaft mit einem Sonderangebot von billigem Plastikschmuck, verkaufte zentimeterlange Wimpern und Haarteile von orange bis giftgrün. Das T-Shirt im Kramkasten bei der Rolltreppe hieß an diesem Samstag "Zauber T-Shirt", und an der Kasse, wo sich nach der Wende brave DDR-Bürger mit ihren alten Einkaufstaschen aus bräunlicher Lederimitation zur Schlange formierten, stand nur noch das Haarspray Spalier.
Wahrscheinlich hatte der Kaufhof noch nie so viele junge, bunte Menschen auf einmal gesehen. Sie kauften Cola und Wasser, setzten einander die verschiedenen Sonnenbrillen vom eilig zur Rolltreppe geschobenen Brillenregal auf, standen vor den Walkmen und den Kofferradios. Auf der Suche nach Wasserspritzpistolen durchzogen sie in Scharen die Spielwarenabteilung, durchkramten in Wanderstiefeln und Plateauturnschuhen die Strumpfabteilung nach Netzstrümpfen, auch in der Dessousabteilung standen keine sinnierenden Damen Ende Zwanzig, sondern Ravermädchen mit ihren Raverjungs, um ihrem Outfit Sex-Appeal zu verleihen. Sogar in der Schuhabteilung begegnete Herr D. einem Außerirdischen, der in silbernen Moonboots fünfzehn Zentimeter über dem Teppichboden schwebte, während ihn über das Regal mit den karierten Pantoffeln hinweg die argwöhnischen Blicke eines Ostberliner Rentnerpärchens verfolgten.
Allein: Herr D. fand keine passenden Schuhe, und als er nach einer Stunde das Kaufhaus des Ostens wieder verließ, drangen ihm bereits die dumpfen Bässe der Moderne entgegen, das Konzert der Trillerpfeifen hob an, die Sonne stieg und die Mädchen legten ab, was sie gerade erst angelegt hatten. Nein, dachte Herr D., wie Schlachtenbummler sind sie nicht. Karnevalsprinzen und -prinzessinnen auch nicht. Und die Punker würden die Klamotten, die sie im Kaufhof kauften, nie ohne Vorbehandlung tragen.
Herr D. befestigte die Klammern an seinem Hosenbein und wollte sich gerade aufs Rad schwingen, da klopfte ihm jemand auf die Schulter. Ein halb nacktes Mädchen lächelte D. an. "Sagen Sie, wo geht's denn jetzt hier zum Großen Stern?" - "Oh, tut mir Leid", sagte D, der für einen Moment die Orientierung verloren hatte. "Ich bin auch fremd hier!" - "Komisch, Sie sehen gar nicht so aus!", sagte die Kleine und verschwand in der Menge.
Stimmt eigentlich, dachte D. auf dem Heimweg. Ein Jahr war er jetzt in Berlin. Aber ein richtiger Berliner war er immer noch nicht. Ein richtiger Berliner würde nie auf die Loveparade gehen. Das hat der echte Berliner längst hinter sich. Im Gegensatz zum echten Kölner. Der geht noch immer jeden Rosenmontag zum Umzug.
Frankfurter Rundschau - 2002
© Hans W. Korfmann
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