Herr D. geht baden
Am Plötzensee wird auch alles teurer, deshalb hat der Gysi das Handtuch geworfen
Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton
D. hatte schon viel gehört von den Berliner Seen. Die Seen waren so ziemlich das Einzige, was diese Stadt und ihre Umgebung an so genannten Naturschönheiten zu bieten hatte. Die höchste Erhebung war ein Schrottberg aus dem Zweiten Weltkrieg, die Spree war gegen den Rhein ein Rinnsal, und die Wälder im märkischen Sand bestanden aus langweiligen Fichten, in denen das Wild zahm, die Berliner dagegen wie wild herumliefen - zu jeder Tages- und Nacht-, zu jeder Jahreszeit, am schlimmsten im Frühjahr.
Ständig waren sie auf der Suche nach Erholung, joggten durch die Gegend, lagen auf den Wiesen, sprangen mit Montainbikes über Wurzeln und Bordsteinkanten, schoben ihre Brut in dreirädrigen Kinderwagen mit Inlineskatern und 50 km/h über den Asphalt. In Berlin wurde selbst die Freizeit zum Stress. Dagegen war in Bonn das Arbeiten noch gemütlicher!
Aber die Seen! D. hatte sie alle beschwommen. Er hatte sie getestet, im Geiste geordnet nach Verkehrsanschluss, Umgebung, Wasserqualität sowie nach dem Charakter der Badegäste. In umgekehrter Reihenfolge. Am Schluss waren drei übrig geblieben: der Wannsee mit seinem großen Strand und den Segelschiffen und dem ganzen Trubel, der Müggelsee mit den Scharen nostalgischer FKK-Anhänger, die auch zehn Jahre nach dem Fall der Mauer noch ihre Trabis und Schwalben im Gebüsch parkten und das kilometerlange Badeufer besetzt hielten, und eben der kleine Plötzensee - diese Idylle mit Strandkörben, jungen Frauen und einem wichtigen Bademeister, gar nicht weit entfernt vom Kanzleramt.
Den hatte er auserwählt, und als endlich das Kabinett seine Arbeit niederlegte und in die Sommerpause ging, klemmte D. die Badetasche auf den Gepäckträger seines frisch geflickten Rades und fuhr los. 30 Grad sollten es werden, D. beeilte sich. Und war eine ganze Stunde zu früh dort! 9 Uhr! Die Schlange vor dem Eingang hatte bereits eine stattliche Länge erreicht. "Is ja wie im Osten!", sagte eine gut gebräunte, umfangreiche Berlinerin, schon im Bikini und nach Kokosöl duftend, "nur dass wir da um Wurst und Orangen angestanden haben. Aber Schwimmen konnten wir Tag und Nacht." - "Das können Sie immer noch, junge Frau. An Euerm Müggelsee gibt's ja immer noch keine Kassen!"
Die Stimmung war heiter bis gespannt, Männer holten die erste Büchse aus der Badetasche, Kinder zogen ihre Mütter am Ärmel und stellten die immer gleiche Frage: "Wie lange noch?" Nur die beiden Rollstuhlfahrer und einige ältere Frauen verhielten sich ruhig. D. kam zu dem Schluss, dass einige der "sehr verehrten Badegäste" schon länger warteten - in der Hoffnung, man öffne bei 30 angekündigten Grad etwas früher. Diese Hoffnung schien nicht ganz unbegründet, denn immerhin stand auf einem kleinen Schild zu lesen, dass sich die Badeleitung vorbehalte, die Öffnungszeiten in den Ferien zu verlängern. Und tatsächlich kam auf einem Motorroller ein Mann mit gewichtiger Figur, ein Mann im Alter des Vorruhestandes: der Prototyp des Kassierers. Das allgemeine Aufatmen sorgte für einen spürbaren Luftzug in der Hitze. Doch der Kassierer, ein geborener Weddinger, grüßte, öffnete die grüne Badeseetür, schob den Roller über die Demarkationslinie und schloss das Tor wieder, ohne ein Wort zu sagen. Und ohne auch nur einen einzigen Blick in die wartende Menge zu werfen.
"Machen Sie jetzt auf?" Der Kassierer schüttelte den Kopf, kehrte den Wartenden den Rücken zu und verschwand in Richtung Badesee. Die Menge wurde unruhig. "Eine Unverschämtheit, Frauen und Kinder, die sich keinen Urlaub leisten können, so warten zu lassen! Wir Berliner haben doch auch ein Recht auf'n bisschen Erholung, wa?" - "Früher", meinte ein älterer Herr, "da war um sieben offen. Da konnte jeder rein, egal, ob jemand an der Kasse saß oder nicht. Und abends nach acht auch. Bis zehn Uhr! Da konnte jeder mal reinhüppen, ganz umsonst!" - "Genau!", fiel einem anderen ein, "2,50 hat's vor drei Jahren noch gekostet. Jetzt vier Euro! Mit dem Euro ham sie uns alle reingelegt!" - "Das dollste dran is ja, dass der Senat den Bädern die Preise vorgeschrieben hat." - "Ach, das wär doch auch ohne Euro oder Senat teurer geworden", versuchte die Dicke das aufgeregte Volk zu besänftigen. "Vorige Woche ist der Kalle gestorben. Der kann jetzt gar nicht mehr baden! So musste das sehen!"
Da kamen die Gärtner mit ihrem Lkw und öffneten das Tor. Der Fahrer kurbelte das Fenster runter und lachte: "Mann, steht ihr schon wieder hier! Habt ihr denn nich kapiert, jetzt ist's vorbei mit lustig! Der Plötzensee ist in privater Hand. Da konnte auch unser Wirtschaftssenator nix dran ändern. Drum isser auch gegangen. Jetzt wird Punkt zehn geöffnet und Punkt acht geschlossen. Und wenn ihr hier vertrocknet!"
Komische Wirtschaft, dachte D. Wo der Staat die Bäder verkauft und dann die Preise vorschreibt. Hatte dieser Gysi nicht immer von kontrollierter Privatisierung gesprochen? Wo war denn jetzt die Kontrolle? Es hat doch der Mensch ein Recht auf Abkühlung. Die Seen gehören allen. Stattdessen lässt man die Armen in ihren Trainingsanzügen hier stundenlang im eigenen Saft schmoren. D. beschloss, nach dem Urlaub seinem Chef von der Geschichte zu erzählen. Obwohl er wusste, dass es nichts ändern würde.
Frankfurter Rundschau - 2002
© Hans W. Korfmann
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