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Laufen und laufen lassen


Herr D. hat sich viel vorgenommen, doch dann kommt er beim Berlin-Marathon urplötzlich vom Weg ab

Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton

Herr D. war bereit für den 30. BerlinMarathon. Obwohl er im Grunde sein Leben lang auf einem knapp formulierten Standpunkt beharrte: Sport ist Mord. Und was die Großstadtjogger anging, die dem passionierten Fahrradfahrer auf dem Weg zu und von seiner Arbeitsstätte in die Quere trabten, so hielt er für diese Art von Gesundheitsfanatikern je nach Laune ein müdes Lächeln, ein Kopfschütteln oder einige Flüche bereit, die den originellsten Beschimpfungen während der Bundestagsdebatten um nichts nachstanden. Da jedoch eine ganze Reihe von Kollegen an diesem Sonntag mit an den Start gingen und da er in dem Pulk von 35 000 Läufern nicht befürchten musste, von neugierigen Kameraaugen aufgegriffen zu werden, die dann in der Tagesschau bundesweit einen hechelnden Herrn D. zeigen würden, beschloss er, auch dieses Mal wieder pünktlich am Start zu sein, wenn der forcierte Völkermarsch seinen Lauf nahm.

Denn Herr D. war bereits im vergangenen Jahr mit am Start gewesen. Und zuerst einmal enttäuscht. Als Zuschauer war er zwar immer hocherfreut, wenn er diese Manifestation der Zweiklassengesellschaft sah, diesen Pulk schwarzer Läufer vom afrikanischen Kontinent, die dem Rest der Welt leichtfüßig und um viele Minuten vorwegtrabten. Aber dass man ihn schon an der Startlinie nur auf Grund seines Bäuchleins gleich ein paar hundert Meter nach hinten weiterreichte, empfand er als ungerecht. Als D. endlich in Trab verfallen konnte, waren die Afrikaner wahrscheinlich schon Unter den Linden. Andererseits kam ihm diese Einordnung ins Volk der Hobbyläufer gerade recht. Herr D. wollte sich ohnehin nicht vom sportlichen Ehrgeiz seiner Mitläufer anstecken lassen, er hatte sich vorgenommen, den Berlin-Marathon weniger als eine sportliche Anstrengung, sondern eher als einen ausgedehnten Stadtrundgang zu betrachten. Bis zum Kilometer 4 Unter den Linden konnte er sich an diesem Standpunkt einigermaßen aufrichten. Doch schon bei Kilometer 6, als er am Alexanderplatz eine ziemlich korpulente Dame an sich vorüberziehen lassen musste, überkamen ihn Zweifel. Und als am Schöneberger Rathaus bei Kilometer 10 dieser Typ mit dem Kopfhörer und dem lächerlichen Sonnenschirmchen über seinem Haupt an ihm vorüberzog, dachte er zum ersten Mal an die Kapitulation.

Aber wie sollte man in dieser rennenden Meute anhalten? Wohin ausscheren, wenn rechts und links der Straße das grölende Volk stand? Wie sich unter den Blicken aller unauffällig aus der Affäre ziehen? Und am Ende war dann doch irgendwo eine versteckte Kamera, und in Bonn würden sich seine alten Freunde auf die Schenkel klopfen.

Sport ist Mord, dachte D. und trabte weiter, in leicht gedrosseltem Tempo, vorbei am Potsdamer Platz, schluckte gierig aus den Wasserbechern, die ihm Streckenposten und Bundeswehrsoldaten von Zeit zu Zeit entgegenstreckten, oder er griff sich eine Banane, die Schirmherr Schröder nach alter Kanzlermanier gesponsert hatte, den Landwehrkanal entlang Richtung Neukölln. Und am Straßenrand standen immer mehr Menschen, eine Million sollten es sein, sonntägliche Spätaufsteher, die höhnisch Beifall klatschten, Bier tranken und Würstchen aßen, während 60 Musikkapellen und Jazzbands
vor den Lokalen spielten und aus den Fenstern dicke Berliner dem Herrn D. entgegentröteten. Ihm lief der Schweiß. So groß war ihm Berlin nie vorgekommen!

Bei Kilometer 17 wollte er aufgeben, aber dann sah er, wie am Kottbusser Damm kleine Grüppchen vom Parcours abwichen. D., von einem sicheren Instinkt getrieben, folgte den Deserteuren auf einem Schleichweg zwischen Spielplätzen und Hinterhöfen hindurch ins Unterholz, und als er vor den Büschen die unzähligen Paare strammer Männerwaden stehen sah, reihte er sich erleichtert ein und ließ den letzten Rest etwaiger Körperflüssigkeiten auf die Blätter rauschen. Bei Kilometer 21, gleich neben dem Palast der Telekom, mischten sie sich dann unauffällig wieder unter die Meute. D. rechnete sich aus, dass sie gut 4 Kilometer gespart hatten.

Doch was waren die vier gesparten Kilometer gegen die 13 Kilometer, die noch vor ihm lagen? Als D. zum zweiten Mal diesen Läufer mit dem Regenschirm über seinem Haupt an sich vorüberziehen sah, lächelter er schon. Mit einem Anflug von Weisheit. Und nicht länger als eine Sekunde lang spielte er wenige Meter später mit dem Gedanken, seinem Vordermann zu folgen, der sich plötzlich aus dem Pulk löste, ihm noch einmal zuwinkte und trabend in "Erikas Eckkneipe" verschwand. Dann war die Entscheidung gefallen. Für "Erikas Eckkneipe".

Bei drei Glas Bier beschloss Herr D., auch im nächsten Jahr, beim 30. Berlin-Marathon, wieder an den Start zu gehen. Denn Eckkneipen würde es auch am 28. September und beim 30. Berlin-Marathon noch viele geben in Berlin - die ganze Strecke entlang.

Frankfurter Rundschau - 2003
© Hans W. Korfmann

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