Niesend an der Fleischtheke
Herr D. nähert sich unverhofft im Supermarkt der Vogelgrippe
Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton
Es gab, wenn auch nur einige wenige, Momente, da beneidete
Herr D. seine verheirateten Kollegen. So auch an diesem
Feierabend: Er hatte nicht die geringste Lust, sich mit seinen
explosiven Niesausbrüchen in den Fünf-Uhr-Stau vor den
Kassen der Lebensmittelmärkte zu mischen. Aber als allein
stehender Arbeitnehmer hatte er keine Alternative. Abgesehen
vom Samstagmorgenstau - der keine wirkliche Alternative war.
Um also die neonbeschienenen Blondinen an den Kassen der
Supermärkte zu umgehen, lenkte Herr D. sein Fahrrad zur
Markthalle. Kaum kam er von den frühlingshaften
Außentemperaturen in die Kühle des steinernen
Gründerzeitbaus, brachten ihn zwei heftige Detonationen im
Naseninnern zum Stehen. Während er sein kariertes
Taschentuch aus dem Mantel fingerte und die Nase darin
versenkte, stieß er auf die argwöhnischen Blicke einiger
Hausfrauen und besorgter Mütter, die wahrscheinlich
signalisieren sollten, dass ein Mann in diesem Zustand
eigentlich ins Bett gehöre.
Die Warteschlange vor dem Stand mit dem Neulandfleisch
jedoch war genau so lang wie die vor den Kassen der großen
Lebensmittelfilialen. Alles, was Herr D. zu seinem Glück
brauchte, waren ein Stückchen Mettwurst und zwei Scheiben
Schinken, jedoch musste er warten, als handele es sich um ein
halbes Schwein. Herr D. ärgerte sich schon lange über die
unnötigen Wartezeiten, er empfand sie als Diebstahl, als ein
ungerechtes Verfügen Fremder über seine ganz private Zeit.
Er stand bereits in der siebten Position, als er zum zweiten Mal
niesen musste. Niemand sah sich nach ihm um. Auch als er,
schon an vierter Stelle liegend, gleich von zwei heftigen und
unmittelbar aufeinander folgenden Eruptionen erschüttert
wurde, begegneten die Berliner Mitbürgerinnen und Mitbürger
dem Niesenden mit Ignoranz. Lediglich der Schwule mit der
Schmalzlocke in zweiter Position sah sich scheinbar zufällig um
und musterte das karierte Taschentuch. Selbst, als zwischen
ihm und der ersehnten Wursttheke nur noch eine dünne Frau
und Herr D. sozusagen schon im Rampenlicht stand, schenkte
niemand dem einsamen und hoffnungslosen Kampf des Herrn
D. gegen den Juckreiz in der Nase gebührende
Aufmerksamkeit.
H5N1 statt BSE
Denn Kundin und Verkäuferin waren in eine angeregte
Unterhaltung verstrickt: "Sechs Milliarden sollen es sein, hab
ich gelesen! Sechs Milliarden allein in Asien!", sagte die
Wurstverkäuferin und zerlegte ein kleines Hähnchen kunstvoll
in vier noch kleinere Teile. "Da fragt man sich doch, wie man
die alle impfen soll." - "In China, hab ich heute Morgen im Radio
gehört, sind die Bauern mitsamt ihren Hühnern auf der Flucht.
Vor den Inspektoren. Damit sie ihre Hühner nicht verlieren. Da
rennen die einfach weg, das muss man sich mal vorstellen",
sagte erregt die dünne Kundin.
"Naja, so schlimm ist das alles ja auch nicht", verteidigte die
Fleischverkäuferin die chinesischen Fleischlieferanten,
"anstecken kann man sich ja nur, wenn man das Fleisch isst.
Und dann isst man eben kein chinesisches Hühnerfleisch mehr.
Fertig." Die rotbackige Fleischverkäuferin rollte das zerlegte
Federvieh in einem Bogen Papier ein und sagte: "Unsere
Hühner sind jedenfalls sauber." - "Na, das hat man von den
Rindern auch gesagt. Und dann?" - "Was dann?" fragte die
Marktfrau und stemmte die Arme in die Hüften: "Ist auch nur
einer dran krepiert hier bei uns? - Nöö. Nischt. - Aber zwei
Jahre hatten wir jeden Abend verrückte Rinder auf der
Mattscheibe. Und zwei Jahre lang schrieben die Zeitungen über
nichts anderes als über BSE. Jetzt ist es eben H5N1."
Doch die Kundin war so leicht nicht zu beruhigen. "In der
Zeitung stand, dass die Vogelgrippe, wenn sie gemeinsam mit
einem gewöhnlichen Grippevirus auftritt, auch von Mensch zu
Mensch übertragen wird. Also durch einen ganz gewöhnlichen
Schnupfen. Warum würden sie sonst die Leute in Quarantäne
stecken."
"Ach, das sind doch alles ABM-Maßnahmen. Gibt Arbeit fürs
Robert-Koch-Institut und die Pharmaindustrie. Und die ganzen
Schmierblätter", beschwichtigte die Wurstfrau. "Und das
Tückische ist ja, dass es genau so anfängt wie eine ganz
normale Grippe. Mit Schnupfen und plötzlichem Fieber und..."
Die Kundin erwies sich als eine wahre Expertin in Sachen
Vogelgrippe, kannte alle Symptome und alle
Präventivmaßnahmen, und sie schnatterte wie ein
Radiosprecher - bis Herr D. niesen musste. Sie brach ab,
drehte sich um und sah Herrn D. plötzlich mit ganz neuen und
verwunderten Augen. Wahrscheinlich, überlegte Herr D., sah
sie bereits Federn aus ihm sprießen. "Zwei Scheiben Schinken
und ein Stück Mettwurst", sagte Herr D., als er endlich an der
Reihe war, und die Wurstverkäuferin deutete mit einer
kreisenden Bewegung des Zeigefingers neben ihrer Schläfe an,
dass die Kundin etwas durcheinander sei. "Den ganzen Tag
allein. Zu viel Fernsehen."
Auf dem Heimweg erinnerte sich Herr D. an das Pochen in den
Schläfen vor zwei Tagen. Das Fieber war ganz plötzlich
gekommen, in wenigen Sekunden war das Thermometer auf
38,5 gestiegen. Das Hühnerfleisch beim Chinesen vor zwei
Tagen hatte auch irgendwie merkwürdig geschmeckt. Und
dann war da noch diese vietnamesische Delegation gewesen,
die ihre Nasen in jedes Büro gesteckt hatten. Die hatten doch
alle diese ungesunde Hautfarbe gehabt.
Frankfurter Rundschau - 2004
© Hans W. Korfmann
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