Pünktlich wie die Maurer
Herr D. wechselt für drei Tage die Seiten und wird vom
Arbeitnehmer zum Arbeitgeber
Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton
Nimm den!", hatte sein Kollege zu ihm gesagt, "das ist kein Pole und
kein Türke. Das ist nur einer aus dem Osten. Ein Profi!" Ganz wohl
war Herrn D. bei der Sache nicht. Zwar hatte er keine moralischen
Bedenken gegen Schwarzarbeit, im Gegenteil: Wenn es keine
ordentliche Arbeit mehr gab für die Menschen, dann mussten sie
eben unordentlich arbeiten. Schwarzmärkte waren eine natürliche
Begleiterscheinung von Armut und Notstand, auch die schwarzen
Arbeitsmärkte. Und solange es noch Schwarzarbeit gab, war nicht
alles verloren. Standen die Leute noch nicht ganz auf der Straße,
sondern nur mit einem Bein.
Nein, Herr D. wollte die Schwarzarbeit unterstützen, er hatte sich
vorgenommen, den Mann gut zu bezahlen, ihm sozusagen einen
gerechten Lohn zu geben. Wann hatte man als ewiger Arbeitnehmer
schon einmal die Chance dazu, ein bisschen Arbeitgeber zu spielen!
Hätte Herr D. eine Firma beauftragt, er wäre nichts anderes als ein
Kunde gewesen, ein Betrag unterm Strich. Dieser Arbeitslose aber
würde nun drei Tage in seiner Wohnung beschäftigt sein, die Wände
anmalen, die Fensterbretter lackieren, und Herr D. würde ihm zu
Mittag ein paar Stullen hinstellen und ein Bier - so, wie es schon seine
Großmutter gemacht hatte, wenn die Handwerker kamen. Und der
Maler würde nach drei Tagen Arbeit genug Geld in der Tasche haben,
um zwei Wochen davon zu leben.
Nein, es gab nur einen einzigen Grund, weshalb Herr D. gezögert
hatte, diesen Kalle anzurufen: D. wollte eigentlich keinen Profi! Er
wollte einen sympathischen Bastler, einen Mann, der morgens um
sieben mit einem Farbeimer, einer Rolle und einem freundlichen
Lächeln in der Tür stand. Der sich noch freute über den Job. Dieser
Kalle aber war ausgebucht bis September.
Und dieser Kalle stand dann auch nicht um sieben, sondern erst um
zehn Uhr in der Tür. Um sechs allerdings hatte es schon einmal bei
Herrn D. geklingelt. Das war der Pole, der für Kalle arbeitete. Für fünf
Euro die Stunde. Er durfte es aber eigentlich nicht sagen. Herr Kalle
kam nur ab und zu einmal vorbei, brachte neue Farbe, schimpfte ein
bisschen mit dem Polen, führte ein kurzes Anstandsgespräch mit dem
Kunden, furzte schamlos wie ein Maurer und verschwand dann
wieder.
Als Herr D. zu Mittag Wurst und Brot und Bier auf den Tisch stellte,
schüttelte der Pole den Kopf. Er habe es sehr eilig heute. Er müsse
bis vier Uhr hier fertig sein, der Chef hätte noch eine andere
Baustelle in der Nähe. Eigentlich sogar vier, eine im Wedding, eine in
Moabit, und zwei in Charlottenburg. "Charlottenburg!", sagte er, und
es klang, als spräche er von einer anderen Welt. Er müsse aber in
den Wedding. Der Chef lasse ihn nicht nach Charlottenburg. Da ließe
er nur seine Ossis ran. Da gäbe es ja auch immer ordentlich
Trinkgeld. Herr D. saß allein mit seiner Wurst am Tisch und dachte
nach. Nicht mal das Bier wollte der Pole trinken. Der Chef sah das
nicht gern. "Das ist ja schlimmer als auf dem Bau", rief Herr D.
hinüber. "Ja, wie im Bau", sagte der Pole.
Der Pole also sprach nicht viel, aß nicht viel und trank nicht viel. Aber
er arbeitete viel. Jeden Morgen um sechs stand er in der Tür,
pünktlich wie die Maurer. Und jeden Abend um halb vier packte er
zusammen, kehrte, wischte, polierte mit dem Daumen, hinterließ nicht ein einziges Krümelchen einer Spur von Schwarzarbeit. Bis zum
letzten Tag der Anwesenheit des Handwerkers konnte Herr D. sich
nicht entscheiden, ob er den Arbeiter nun bescheiden und
gewissenhaft oder unterwürfig und pingelig finden sollte.
Herr D. hätte nicht einmal sagen können, ob dieser Mann freundlich
war oder nicht. Zwar antwortete er, wenn Herr D. ihn ansprach, ließ sogar für einige Sekunden die Rolle sinken. Aber seine Antworten
waren stets einsilbig. Vielleicht hatte er die Order, nicht zu viel mit
den Kunden zu sprechen.
Kalle allerdings ließ durchaus ein Urteil zu. Jeden Nachmittag,
pünktlich um halb vier, stand er in der Tür, trank die offerierte Tasse
Kaffee und sah seinem Arbeiter beim Zusammenpacken zu. Nie
berührte er ein Werkzeug. Er saß dick und fett wie eine Karikatur aus
sozialistischen Schulbüchern auf Herrn D.s Küchenstuhl, verlangte
nach einem Aschenbecher, rauchte in fünf Minuten fünf HB und
verschwand wieder.
Lediglich am letzten Tag blieb er etwas länger. "Wissen Sie, das ist
kein Land zum Leben. Bei uns, wissen Sie, bei uns hat keiner
gehungert! Da stand auch keiner auf der Straße, da gab es für jeden
Arbeit. Und wenn es keine gab, dann wurde eben eine geschaffen.
Damit keiner auf dumme Gedanken kam. Da gab es keine
Arbeitslosen mit Bierpullen auf der Parkbank, und auch keine Leute
mit Ringen in der Nase." Kalle fuhr fort: "Wissen Sie eigentlich, was
wir verdient haben? Wie reich wir waren? Wir hatten alles, was wir
brauchten. Wir hatten zwar kein Geld, aber sonst hatten wir alles:
Wohnung, Laube, Fernseher, Auto, Urlaub. Es fehlte uns nichts! Es
wollte ja auch gar niemand rüber, wie sie immer alle erzählen. Wir
wollten nur mal nachsehen - und dann schleunigst wieder zurück." Herr D. hatte das ja alles schon einmal gehört, doch noch nie so
komprimiert. Und wären da nicht diese Bilder jener Menschen
gewesen, die damals über die Grenze drängten, freudestrahlend oder
heulend, und die nicht den Eindruck erweckt hatten, als wolle hier
jemand der BRD nur einen kurzen Besuch abstatten - er hätte
diesem alten DDR-Veteran vielleicht sogar geglaubt.
"Aber es geht ihnen doch hier auch nicht so schlecht", sagte Herr D.
zum Schluss. "Ja, weil ich arbeite", sagte Kalle und warf einen Blick
auf seinen Polen, der mit der Werkzeugtasche in der Tür stand. "Weil
ich mir Mühe gebe. Weil ich mich nicht auf meinem fetten
Kapitalistenarsch ausruhe." Sagte Kalle und zählte die Scheine,
während ihm ein letzter Furz entfuhr.
Frankfurter Rundschau - 2003
© Hans W. Korfmann
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