Herr D. trifft ein armes Schwein
Ernie, der Keiler, geht gern mit Frauchen
in die Kneipe und beißt nur selten
Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton
Wenn Herr D. Bonn mit Berlin verglich - was er leidenschaftlich
gerne tat -, dann fiel ihm vor allem eines auf: In Bonn war alles
etwas kleiner als in Berlin. Und wenn Herr D. heute auf den stolzen
Reichstag zuschritt, dann dachte er schon etwas schamvoll an das
Bonner Abgeordnetenhaus zurück, und neben dem Tiergarten erschien
ihm der Bonner Park Bad Godesberg wie ein Schrebergarten.
Alles, die Straßen, die Häuser, die Seen,
sogar die Hunde, dachte Herr D., waren in Bonn kleiner gewesen.
Am Rhein herrschten die dezenteren Exemplare des beliebten Lebensbegleiters
vor, gelockte Pudel und langohrige Dackel, die an lang gezogenen
Gummileinen durch die Lüfte flogen, wenn Herrchen oder Frauchen
den entscheidenden Knopf drückten. Kleine Schoßhündchen,
die mit ihren rosafarbenen Pfötchen selbst im lockersten Waldhumus
keine ordentliche Kuhle scharren konnten. Der festgetretene märkische
Sand dagegen war von abgrundtiefen Fallgruben übersät,
die gigantische Dobermänner, Doggen und Schäferhunde gegraben
hatten, und die für den Bürger gepflasterten Wege Berlins
waren mit den Nachlässen der Haustiere überhäuft,
gefährlichen Tretminen, zwischen denen sich der Städter
nur in einem schwierigen Slalomkurs fortbewegen konnte.
Vielleicht, überlegte Herr D., resultierte die
übertriebene Zuneigung des Berliners zu Tieren und Schrebergärten
aus der jahrzehntelangen Isolation von Wald und Feld. Zumindest
im Westteil der Stadt war ein Ausflug ins von Fontane viel besungene
Umland mit langen Warteschlangen verbunden gewesen, weshalb die
meisten Westberliner das Naturerlebnis auf vier eingezäunte
Quadratmeter zwischen S-Bahngleisen und Schifffahrtskanal zu reduzieren
hatten, und Hirsch und Reh kannten sie nur noch von Omas besticktem
Sofakissen.
Die Tierliebe des Berliners jedenfalls war groß,
noch nie hatte Herr D. so viele und so große Tiere gesehen.
Kürzlich, es war wie im Traum, hatte er mitten in der Stadt
eine junge Frau mit einem Pferd über die Kreuzung galoppieren
sehen, ohne Sattel und mit wehender, blonder Mähne. Und in
einem Café namens Primel hatte er Ernie kennen gelernt. Ernie
war benannt nach der niedlichen Figur aus der Sesamstraße,
und die Primel war ein ruhiges, kleines, kaum besuchtes Café
in der Fidicinstraße, mit ruhigen, Zeitung lesenden Gästen,
einem guten Kaffee und einem interessanten Wirt. Er hatte gewaltige
Tätowierungen auf den Unterarmen, ein finsteres Gesicht, eine
polnische Frau, einen Pudel, hausgebackenen Kuchen und leise, klassische
Musik im Hintergrund.
Manchmal kam eine riesige Dogge herein, deren Kopf
Herrn D. etwa bis zur Brust reichte, rutschte auf den Dielen entlang
und versuchte, zwischen den eng zusammengerückten Tischen und
Stühlen ihre Beine zusammenzufalten. Das Ganze schien ihr unangenehm
zu sein, jedenfalls sah sie ihre Mitmenschen stets mit einem entschuldigenden
Blick an, obwohl ihr eigentlich keiner eine besondere Aufmerksamkeit
schenkte. Berliner würden sich nicht einmal wundern, wenn ein
Gast auf einer Kuh ankäme.
Auch Ernie schenkten sie zuerst wenig Beachtung. Ernie
stand den ganzen Winter über am Heizkörper und damit im
Weg, denn zwischen der wärmenden Metallplatte einerseits und
der Kasse und Kuchenvitrine andererseits blieben dem einwandernden
Kunden ohnehin kaum 80 Zentimeter. Ernie interessierte das wenig,
er wärmte sich zuerst die rechte, dann die linke Seite, und
dann wieder die rechte. Bis Frauchen sagte: "Komm, Ernie, wir
gehen noch ein bisschen spazieren."
Etwa ein Jahr lang nahmen die Gäste Rücksicht
auf Ernie und seine allein stehende Krankenschwester, die schließlich
die beste Freundin von Maria, der Frau des Wirts, war und Ernie
nur deshalb genommen hatte, weil man ihr versprochen hatte, er wachse
nicht mehr viel. Nach einem Jahr in der Primel war der kleine Ernie
dann ausgewachsen, die Stoßzähne hatten eine beachtliche
Länge, die Borsten stachen, sein Grunzen ließ die Tassen
der Kaffeetrinker in der Luft verharren.
Und dann, eines Samstagnachmittags, Herr D. wollte
gerade die Gabel in den beliebten Zupfkuchen stechen, da hörte
er Maria laut aufschreien. Als er aufsah, stand sie lang gestreckt
auf dem Heizkörper, klammerte sich mit einer Hand an die Lampe
und sah entsetzt unter sich, wo sie ein ausgewachsener Keiler angrunzte.
"Er hat mich gebissen, er hat mich gebissen!"
Die Besitzerin des Schweines wollte das nicht wahrhaben.
Sie beteuerte immer wieder, was für ein liebes und einsames
Tier Ernie sei. Sie habe ja schon versucht, ihn auf einen Bauernhof
zu geben. Aber er zeige kein Interesse für seine entfernten
Artgenossen und kehre immer wieder auf seine Decke zurück.
Sie könne doch dieses arme Schwein nicht einfach abschieben.
Sagte die Schweinebesitzerin.
Am Ende vertrug man sich wieder, Ernie, Maria und
die Krankenschwester waren auch am nächsten Samstag wieder
in der Primel, und Herr D. beschloss, dass die Berliner tatsächlich
ein außergewöhnlich tierliebes Volk waren.
Frankfurter Rundschau - 2002
© Hans W. Korfmann
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