Wenn der Warenfluss unvermutet stockt
Herr D. muss Geschenkpapier mit Blümchen holen und erlebt eine Zusammenrottung von Kaufwilligen vorm Kaufhaus
Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton
Herr D. war im Grunde nicht anders als andere Menschen auch.
Er hatte gute und schlechte Tage. Allerdings schienen sich die
schlechten Tage manchmal gegen ihn zu verschwören und in
geschlossener Formation gegen Herrn D. anzutreten. Er ahnte
es schon am frühen Morgen. Kaum war er aufs Rad gestiegen,
begann es zu regnen. Anschließend fuhr ihm der Bus davon, so
sehr er auch winkte. Glücklich im Büro angekommen, wollte er
sich einer alten Akte zuwenden, da kam die Liebich
angehumpelt. Die lieb ich ja, dachte Herr D., und kaum hatte er
das gedacht, da sagte sie auch schon: "Herr D, könnten Sie mir
einen Gefallen tun? Ich bräuchte ganz dringend noch einen
Bogen Geschenkpapier. Am besten bei Karstadt. Sie wissen
doch, der Chef hat Geburtstag heute...."
Herr D. wusste, aber er hatte sich trotzdem nicht an dem
Gemeinschaftsgeschenk beteiligt. Aus Rache. Und wegen der
mangelnden Kaufkraft. "Mit Blümchen drauf oder eher etwas
Schlichtes?" fragte er. - "Mit Blümchen! Ein anderes brauchen
Sie gar nicht erst anzubringen!" Herr D. nickte, und die Liebich
rief ihm noch nach: "Dann kommen Sie auch mit aufs
Kärtchen!"
Vielleicht war dieser Mittwoch doch nicht so schlecht. Herr D.
wollte nämlich ohnehin zu Karstadt. Da sollte es gerade so
billige Schuhe geben. Hatte Schulz gesagt, und hinzugefügt:
Der Markt reagiert allmählich auf die mangelnde Kaufkraft.
Tatsächlich schossen die Läden mit den Fünfzig-Cent-Artikeln
wie Schimmelpilze aus dem deutschen Asphalt, an jeder
Straßenecke eröffnete eine Filiale von "Mäc-Geiz" oder"Knüllerkiste". Selbst am Kurfürstendamm bot jetzt das edle"Kaufhaus des Westens" Billigware aus dem Osten an, und der
frisch marmorierte Karstadt am Hermannplatz vergrößerte
seine Ramschabteilung im Keller wöchentlich um zwanzig
Quadratmeter.
Doch die Menschentraube vor dem Eingang des Warenhauses
ließ nichts Gutes erwarten. Herr D. dachte zuerst an einen um
sich schießenden Amokläufer, dann an einen
Selbstmordattentäter. Doch ganz so schlimm sollte dieser
Mittwoch doch nicht werden. Herr D. studierte den
handgeschriebenen Zettel in der Scheibe und beruhigte sich
zusehends: "Wegen Vollversammlung öffnen wir erst gegen 11
Uhr ". Wahrscheinlich wusste der Konzern nicht, was er mit
diesen ganzen nutzlosen Verkäufern aus den oberen Etagen
anfangen sollte. In der Ramschabteilung im Keller war kein
Platz mehr. Eigentlich blieb nur noch die Straße. Herr D. sah auf
die Uhr. Eine halbe Stunde noch. Allerdings schien ihm diese
Formulierung "Gegen elf Uhr" doch ein ziemlich dehnbarer
Begriff zu sein.
"Wieso stehn hier denn so viel Leute rum?" fragte eine dicke
Frau, die gerade einmarschierte und ein dickes Kind hinter sich
her zog. Das Kind starrte auf den Boden, wo ein rosafarbenes
Bonbonpapier lag. Die Mutter starrte auf das Schild. "Ach so,
ich dachte schon, da gibt's was umsonst!" Jemand wandte ein: "Bei Karstadt doch nich." Herr D. fühlte sich nicht unwohl in der
protestierenden Menschentraube und beschloss, zu warten.
Die Stimmung wurde auch immer besser. Junge Mütter fuhren
kreischende Babys in Kinderwagen vor dem Eingang hin und
her, Männer mit Aktentaschen telefonierten ihre Handys heiß,
Rentner bekamen blaue Lippen, und die letzten Raucher der
Nation qualmten schon aus den Ohren. "Das ist doch eine
Unverschämtheit. Warum machen die das nicht nach
Feierabend?" - "Dann müssten sie die Überstunden bezahlen!"
Die diskutierende Traube wuchs inzwischen immer weiter auf
die Straße hinaus und begann allmählich, ernsthaft den
Verkehr zu behindern. Da plötzlich öffnete sich ein Nadelöhr ins
Innere des Konsumpalastes, innerhalb von
Sekundenbruchteilen spaltete sich der harte Kern in zwei Teile,
bildete sich ein zweiter Menschenkloß vor der Rolltreppe in den
Keller. Der dicke Ordnungshüter, der gerade noch am Eingang
gestanden und die Kunden der Post durchgewunken hatte, die
sich raffinierterweise bei Karstadt einquartiert hatte und
Briefmarken verkaufen wollte, musste für einen Moment nicht
aufgepasst haben. Jetzt stand er direkt vor der Rolltreppe.
Herr D. betrachtete einerseits das schmale Absperrband, das
die Menschenmassen vom Sturm auf die Regale abhalten
sollte, und andererseits das ernste Gesicht des
Ordnungshüters. Beides nicht ohne eine gewisse
Schadenfreude. Gleich würden Sprechchöre den Einlass
fordern, es sah schlecht aus um die Sicherheit des
Sicherheitsbeamten, der jetzt das Sprechfunkgerät aus der
Tasche fummelte und offensichtlich Nachschub anforderte.
Währenddessen drückten die Menschen Herrn D. immer weiter
nach vorne, nur noch zwei Meter trennten ihn von der
Rolltreppe, da endlich trafen drei Mann zur Verstärkung ein. "Hey, Sie da... immer schön langsam!" Der Ordner sah Herrn D.
strafend an. "Sie tun ja, als hätten Sie seit Monaten nichts zu
essen bekommen." Der glatzköpfige Kumpel an seiner Seite
lachte: "Die können's ja gar nicht mehr erwarten, ihr Geld
loszuwerden. Von wegen mangelnde Kaufkraft!"
Herr D. ärgerte sich, er war schließlich auf Befehl hier, und er
hatte sich auch nicht vorgedrängt. Aber er behielt es für sich.
Damit aus diesem halbwegs erträglichen nicht noch ein wirklich
tragischer Unglückstag würde. Wenig später stand er dann
tatsächlich in der Papierwarenabteilung. Als zweiter Kunde des
Tages. Die Verkäuferin behandelte ihn freundlich. Sie lächelte,
als sie ihm mitteilte, dass das Geschenkpapier mit Blümchen
ausgegangen sei. "Gerade eben, die Dame vor Ihnen." Auch
Herr D. lächelte freundlich. Im Grunde hatte er nichts anderes
erwartet.
Frankfurter Rundschau - 2003
© Hans W. Korfmann
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