Keine Engel, nirgendwo
Herr D. steigert in vorweihnachtlicher Laune das
Bruttosozialprodukt
Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton
Nie hatte Herr D. eine so große Schar
dieser Käfer gesehen. Die Mauer hatte
sie offensichtlich einige Jahrzehnte
lang gleichermaßen von West- wie von
Ostberlin abgehalten. Doch seit dem
September 1989 drangen sie in die
Stadt ein, waren unaufhaltsam auf
dem Vormarsch, arbeiteten sich mit
insektenähnlicher Geduld und
Verbissenheit ins Zentrum vor. Vor
allem zu den Großereignissen und den
Feiertagen sah man sie immer
häufiger. Seit Herr D. vor den
Stadttoren Venedigs das erste Exemplar dieser modernen
Reisebusse mit ihren großen und wie Fühler ausgestreckten
Spiegeln gesehen hatte, erinnerten sie ihn an Wesen aus dem
Reich der Insekten. Der halbe Ku'damm stand voll mit ihnen,
und die Besucher hatten nichts Besseres zu tun als das, was
sie auch in Frankfurt, München oder Pforzheim in den Tagen
vor Weihnachten hätten tun können: einkaufen.
Endlos zogen sie an den Schuhgeschäften und Boutiquen
vorüber, die sich auf dem Ku'damm aneinander reihten wie an
anderen Orten der Welt die Souvenirläden. Am Ende
versammelten sich offenbar alle am Platz vor der
Gedächtniskirche mit den Ständen des Weihnachtsmarktes und
einer riesigen Tanne, die ein großmütiger Förster aus dem
reichen Harz oder Fichtelgebirge der armen Hauptstadt
gespendet hat. Darunter haben die Berliner Pakete drapiert -
Attrappen aus Plastik, von denen sich die Buden- und
Kaufhausbesitzer einen stimulierenden Einfluss auf das
Kaufverhalten erwarten. Zur Steigerung des
Bruttosozialproduktes.
Doch niemand schien sich für die Schnitzereien aus dem
Erzgebirge oder die "echt handgemachten" Wachskerzen eines
Ex- oder Immernoch-Hippies zu interessieren, der immerhin
noch entfernt an den langhaarigen Initiator dieses ganzen
Weihnachtsrummels erinnerte. Auch die Engel mit den weißen
Unschuldsröckchen drehten sich ganz umsonst über der
Kerzenflamme, es hatte sich offensichtlich herumgesprochen,
dass es keine Engel gab. Selbst gebrannte Mandeln und
Lebkuchenherzen fanden keinen Absatz, nicht einmal die Grog-
und Glühweinverkäufer konnten sich fröhlich die Hände reiben:
das Volk lief vorüber. Lediglich die Bratwurstverkäufer machten
ihr immer gleiches Geschäft. Auch mit Herrn D. Und während er
nichts ahnend am Stand stand und auf einer Thüringer für zwei
Euro herumkaute, kam der Weihnachtsmann.
"Na, junger Mann, was wünschen Sie sich denn vom
Weihnachtsmann!" - "Dass er möglichst schnell wieder
verschwindet", wollte Herr D. sagen, aber Herr D. war ein
höflicher Mensch. Er sagte und hoffte, den gleichfalls jungen
Mann damit möglichst rasch loszuwerden: "Eine Steigerung
des Bruttosozialproduktes!" - "Sie glauben wohl noch an den
Weihnachtsmann, wa?" antwortete der Weihnachtsmann und öffnete einen Jutesack mit Keksen und Bonbons. "Also, mal im
Ernst jetzt." - "Im Ernst: Steigerung des
Bruttosozialproduktes!" - "Sie können sich von mir aus sonst
was wünschen, das ist mir schnuppe! Hier ist die Frage: Kekse
oder Bonbon?" - "Kekse", sagte Herr D. - "Habe ich mir
gedacht", sagte der Weihnachtsmann, strich sich über den
weißen Bart und gab Herrn D. einen Keks. Dann schnallte er
seinen Rucksack ab, zog eine Zeitschrift heraus und reichte
Herrn D. Die Platte, "Obdachlosenzeitschrift. Der Erlös des
Verkaufs geht an..."
Herr D. kaufte dem obdachlosen Weihnachtsmann die
Zeitschrift ab und gab ein Trinkgeld, der Weihnachtsmann
grüßte und sagte, er werde sich bemühen, "wegen des
Bruttosozialproduktes". Dann verließ Herr D. den Markt mit dem
künstlichen Schnee und dem falschen Weihnachtsmann,
wehrte die wildentschlossenen Aktivisten einiger
Tierschutzverbände ab, die Fotos von Schweinekadavern und
verreckten Gänsen zeigten, schaute durch Frauen hindurch,
die, in dicke Mäntel gepackt, mit Blechdosen und Fotografien
dickbäuchiger Kinder für Hilfsorganisationen sammelten,
ignorierte eine hagere Gestalt, die versicherte, an Aids
erkrankt zu sein. Er schlich an den merkwürdigen
Erscheinungen der Zeugen Jehovas vorüber, die starr und
unerschütterlich ihre "Wachttürme" vor die Brust hielten und
schlug sich bis zum neuen Kranzler-Eck durch, wo sich Exoten
im Freifluggehege zwischen den Konsumtempeln der milden
Temperaturen erfreuten. Zur Steigerung des
Bruttosozialproduktes.
Nicht weit entfernt standen viel zu viele Menschen mit
Schlittschuhen in einer von schwarzem Wachpersonal
gesäumten Warteschlange vor einer winzigen Eislauffläche,
gesponsert von einem namhaften Berliner Hotel. Einige der
jungen Stadtwintersportler trugen Blumensträuße für die
Eisschnellläuferin Claudia Pechstein mit sich, die im neuen
Kranzler-Eck erwartet wurde. Zur Steigerung des
Bruttosozialproduktes.
Wieder ein paar Meter weiter standen in einer noch längeren
Schlange noch mehr Mädchen und warteten, eskortiert von
den grünen Ordnungskräften des Sponsors, auf eine
Autogrammstunde, die in fünf Stunden auf der kleinen Bühne
mit den dicken Scheinwerfern stattfinden sollte. Die grünen
Gestalten erinnerten Herrn D. an Marsmännchen, und er fragte
sich gerade, welche Sternchen hier vom Himmel fallen sollten,
da tippte ihm jemand auf die Schulter. Es war der falsche
Weihnachtsmann. "Und? Haste gesehen, was da steht: No
Angels!"
Frankfurter Rundschau - 2003
© Hans W. Korfmann
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