Herr D. wohnt zur Miete
Wie sich Nachbar Schulz für mangelndes
Interesse rächt
Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton
Herr D. war glücklich mit seiner Dreizimmer-Wohnung
am Kreuzberg, gleich neben dem Victoriapark. Abends stand er am
Fenster und betrachtete die Skyline der zwanzigstöckigen Plattenbauten
Ostberlins, und nur die raketenähnliche Gestalt des Fernsehturms
mit ihrer leuchtenden Kapsel auf der Spitze hinderte ihn daran,
den gewagten Vergleich mit jenem Stadtteil zu ziehen, den er während
der Studienzeit so oft besucht hatte: Manhattan. "Denn verglichen
mit Bonn", sagte sich Herr D., "ist das hier schon was
anderes!"
Auch mit seinen Nachbarn war Herr D. durchaus zufrieden.
Er traf sie meistens im Fahrstuhl, meistens morgens, wenn sie wie
er zur Arbeit fuhren, oder am Nachmittag, wenn sie wie er wieder
heimkamen. Sie waren wie er mittleren Alters und mittleren Standes.
Bei der Nachbarin hatte er herausgefunden, dass sich zwei Ärzte,
zwei Juristen, ein Psychologe und gleich drei Krankenschwestern
im Haus befanden. Herr D. fühlte sich geborgen in seinem neuen
Heim.
Auch ein Handwerker wohnte im Haus, unter ihm, Herr
Schulz. Allerdings ein arbeitsloser Arbeiter. Herr Schulz hatte
gleich am ersten Tag seine Aufwartung beim neuen Mieter gemacht.
Er habe alles erdenkliche Werkzeug in seiner Wohnung, wenn D. einmal
etwas benötige, "kein Problem!", hatte er gesagt.
Aber D. hatte seine eigenen Zangen und Schraubenzieher aus Bonn
importiert. Und das Renovieren übernahm eine Firma. Das hielt
den Nachbarn jedoch nicht davon ab, D. bei ihren häufigen Begegnungen
im Fahrstuhl jedes Mal erneut seinen Werkzeugkasten anzubieten.
Als D. spürte, dass ihr Verhältnis mit der
Zeit merklich abkühlte, und als er deshalb eines Tages klingelte
und nach einer Rohrzange fragte, war es zu spät: Schulz überreichte
ihm die Zange wortlos. Aber als er schon fast draußen war,
fragte er D. doch noch etwas: "Was machen Sie eigentlich beruflich?"
- "Ich bin Beamter!" - "So'n Lehrer also?" -
"Nein, ich arbeite im Auswärtigen Amt!" - "Ach
so. Naja . . ." Schulz zog dieses "Naja" bedeutungsvoll
in die Länge, es klang, als habe Schulz eine Erleuchtung. Und
als D. die Zange zwei Tage später zurückbrachte, sagte
Schulz nur noch "Danke".
Es war also alles in allem ein durchaus bürgerliches
Haus, inklusive des hausmeisterlichen Herrn Schulz mit seinem Werkzeugkasten.
Und kein "Revoluzzernest", wie sie im Büro immer
sagten. Aber eines Tages klingelte es, ein Nachbar, den D. noch
nie gesehen hatte, stand in der Tür: "Ich bin Eberhard
aus dem Hinterhaus. Wir wollen uns am nächsten Montag zur Mietersitzung
treffen. Ich wollte nur fragen, ob du Interesse hast, mitzumachen."
D. hatte eigentlich keine Lust auf Sitzungen in der
Freizeit. Andererseits wollte D. kein Spießer sein. Er war
jetzt Kreuzberger. Und Kreuzberg hatte eben seine Geschichte. Hier
saßen die Grünen schon lange im Rathaus, hatten die 68er
ihr kleines Biotop, ihr letztes Refugium. Hier ging eben alles noch
etwas altmodisch zu. Herr D. ließ sich einen Zweitagebart
wachsen und kramte am genannten Abend die Jeans hervor, die er aus
irgendeinem unerfindlichen Grund doch noch von Bonn nach Berlin
überführt hatte.
Die besagte Kneipe war gleich an der Ecke, sie hieß
Albtraum und war etwas finster, sogar an der Decke klebten Plakate
mit den Musikheroen der Sechziger, Siebziger und Achtziger. Nach
einer Weile erkannte D. den vermeintlichen Mieterrat. Er war überrascht.
Er hatte mit fünf und nicht mit dreißig Nachbarn gerechnet.
Vier Tische waren zusammengeschoben worden, ein gewaltiges
Tablett mit Biergläsern verbarg das tief ausgeschnittene Dekolletee
der großbusigen Kellnerin, die Herrn D. mit den Worten begrüßte:
"Und du, Kleener, was ist mit dir? Du willst jetzt sicher ooch
noch'n Bierchen, wa!" Dann setzte sie sich auf die Bande des
Billardtisches, damit man die großen Dinger noch besser sehen
konnte, stemmte das Tablett in die Seite und sagte: "Kinder,
Kinder, könnt ihr nicht endlich lernen, eure Bestellung gemeinsam
aufzugeben!"
D. suchte sich einen Platz in der Ecke und nickte
nach rechts und nach links. Auch Schulz war da, gleich gegenüber.
D. nickte ihm freundlich zu. Schulz nickte zurück. D. überlegte,
ob er ihn vielleicht um seine Bohrmaschine bitten solle. Der arbeitslose
Arbeiter brauchte seine Anerkennung.
Aber da ergriff Eberhard auch schon das Wort: "Für
die, die mich noch nicht kennen: ich bin Eberhard . . .". Und
Eberhard und seine Frau hatten also beschlossen, die Hausverwaltung
mit der möglichst geschlossenen Front ihrer Mieter zu konfrontieren,
um den hässlichen Zementgarten in einen duftenden Kleinpark
zu verwandeln. Dazu müsse ein Rat gebildet werden, demokratisch
über die Gestaltung der hauseigenen Grünanlage entschieden
und eine Delegation zur Verwaltung entsandt werden.
Herr D. war basisdemokratische Prozesse nicht gewohnt.
Er hielt sich zurück. Erst, als die Mieter allmählich
von dem großen Entwurf abrückten und auf ihre Alltagssorgen
zu sprechen kamen, das klemmende Kellerschloss, die überfüllten
Mülltonnen und die verstopften Abwasserleitungen, und als Nachbar
Schulz das fachmännische Wort ergriff und von Siphons, Muffen
und Steigrohren zu berichten wusste, schaltete sich auch D. ein:
"Das stimmt, das Wasser fließt nicht richtig ab."
Schulz warf D. in seiner Ecke nur einen kurzen Blick
zu und wandte sich wieder an die breite Mehrheit: "Kein Wunder,
dass die Rohre verstopfen, wenn diese Bonner Bürokraten jeden
Morgen ihren Kaffeesatz in den Ausguss schütten!" Bonner
Bürokraten? Alle sahen einander fragend an. Am Ende aber sahen
alle den neuen Mieter D. an. Schulz hatte Rache genommen.
Herr D. saß den Rest des Abends klein und schweigsam
auf seinem Stuhl und dachte an seine Kollegen im Büro. Vielleicht
hatten sie doch recht - mit diesem Kreuzberg.
Frankfurter Rundschau - 2001
© Hans W. Korfmann
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