Zwischen Literatur & Journalismus Die Menschen StadtReportagen Reisereportagen Kolumnen, Glossen & Buchbesprechungen Hans W. Korfmann

 

Singsang

Herr D. hört sich in einer asiatischen Karaoke-Bar um

Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton

D. hatte mit Kollegen gefeiert, war guter Stimmung, noch nicht ganz satt und hatte deshalb an Berlins bester Currywurst-Bude noch "Eine Ohne" gegessen. "Ohne" heißt ohne Darm, und von Berlins bester Currywurst-Bude gibt es etwa 500. Als D. also nachts um eins da stand, über die Berliner nachdachte und die "Ohne" kaute, fiel sein Blick auf das Schild zwischen Waschsalon und U-Bahn-Treppe: "Kims Karaoke - Chinesisch, Koreanisch, Japanisch".

Schon stand D. vor einer Haustür mit mehr als 20 verkratzten Klingelschildern, las "Sozialgericht, Außenstelle", "Rechtsanwaltskanzlei", "Institut für Lebenskunst & Tantra". Gott sei Dank, Herr Kim war so schlau gewesen, sein Namensschild rot zu markieren.

Die Tür öffnete sich mit geheimnisvollem Surren, D. sah sich ein letztes Mal um und durchschritt einen dunklen Hinterhof, an dessen Ende bunte Lichter blinkten. Er ging durch eine weitere Tür - doch nach der doppelten Schleuse öffnete Herrn D. keine Barbusige in rauchigem Bariton, sondern ein kleines Mädchen mit Piepsstimme.

An den Tischen saßen auch keine tätowierten Seemänner auf Landgang, sondern kleine, asiatische Familiengesellschaften. Sie kauten Erdnüsse, tranken Alkohol und sprangen ab und zu auf, um einen Bekannten am Nebentisch mit enthusiastischem Händedruck, tiefer Verbeugung und einem breiten Lächeln zu begrüßen, das Europäer wie Herrn D. an ein breites Grinsen erinnerte. Die Damen und Herren waren in Abendkleidung, auch die stark geschminkte Frau auf der Bühne. Sie trug den unsterblichen MireilleMathieu-Haarschnitt, ein Nadelstreifenjackett und die Linke lässig in der Hosentasche, und sie sang mit einem unsterblichen Lächeln und mit erstaunlicher Präzision immer einen Halbton zu tief. Das störte niemanden, da ohnehin niemand zuhörte. Doch kaum war der letzte falsche Ton verklungen, fegte ein Beifallssturm durchs Lokal.

D. hatte ein Bier bestellt, und zusammen mit dem Getränk brachte ihm Geon-Joo Kims Tochter Erdnüsse und einen Katalog, der in Format und Stärke dem Telefonbuch von Bonn Ehre gemacht hätte. "Wir haben auch englische und deutsche Lieder", sagte Kims Tochter. "Japanisch spielen wir heute nicht. Es sind keine Japaner da." D. blickte in einen undurchdringlichen Urwald koreanischer, chinesischer und japanischer Schriftzeichen - und entdeckte etwas Bekanntes: "Udo Jürgens: Siebzehn Jahr, blondes Haar". Ob er sich etwas ausgesucht hätte, fragte Kims Tochter. "Nein, ich möchte nur zuhören", sagte D. "Vielleicht ein andermal."

Während D. trank und Erdnüsse kaute und zuhörte, wurde ihm allmählich klar, dass dieses Karaoke-Lokal im Berliner Hinterhof womöglich der einzige Ort auf der Welt war, an dem sich das strahlendste Lächeln der Sängerinnen und Sänger ohne die geringste Scham mit den falschesten Tönen paarte.

Und das einzige Lokal, an dem man wahre Stars der Unterhaltungsbranche sehen konnte, wenn man nur genügend asiatische Toleranz und etwas britischen Humor mitbrachte. Dann war dieser koreanische Tom Waits ein Superstar: Mit schweren Schritten, das müde Haupt gesenkt, betrat er die Bühne, griff im Vorbeigehen nach dem Mikrofon, das neben dem Textbildschirm hing, und schwieg gesenkten Hauptes. Plötzlich riss er den Kopf hoch, blickte ins Publikum. Das Publikum kaute Erdnüsse. Tom aber machte weiter, und Tom sang kein Lied von Waits, er sang ein Lied von Jones.

Kein Wolf heult herzzerreißender, es gibt nichts Traurigeres auf der Welt als einen Koreaner, der ein Liebeslied von Tom Jones singt! Tom verschlang beinahe das Mikrofon, krümmte sich unter der unsichtbaren Last des Schicksals, blickte schmerzverzerrt dorthin, wo in der Regel die Götter sitzen, im Hinterhof jedoch eine Betondecke den Blick begrenzte, aber das Leid, es wollte kein Ende nehmen, "and tiiiiiiiime goes byyyyyyyy so slowlyiiiiii . . ." Am Ende verbeugte sich Tom bis zum Boden und sagte mit tonloser Stimme: "Thank you."

D. fand alles äußerst amüsant. Im Gegensatz zu den kleinen Toms und Mireilles, denen es nicht nur ums Vergnügen, sondern auch ein bisschen um die heimische Tradition zu gehen schien. "Trotzdem, sehr entspannend", dachte D. Bis drei blonde Mädchen auf die Bühne sprangen, die am nächsten Tag offensichtlich schulfrei hatten, und plötzlich "Schuld war nur der Bossanova" und das Lied von Udo Jürgens grölten.

D. sah besorgt zu den asiatischen Tischen hinüber, aber die Familien applaudierten ihren deutschen Gastgebern höflich, sie lächelten sogar ein bisschen. Sie lächeln immer, dachte D., und niemand weiß, was sie dabei gerade für Pläne schmieden.

Frankfurter Rundschau - 2002
© Hans W. Korfmann

zurück