Dichtung und Fahrrad
Anselm Berkenkötter packt seine 250 Verse in Goethescher Manier auf den Anhänger und fährt von Berlin nach Weimar, wo er sie verkauft.
Sechzehnjährige würden beim Anblick des ocker-grauen Gerätes auf dem Schreibtisch von Anselm Berkenkötter nicht nur an der Intelligenz des elektronischen Rechners zweifeln, sondern auch an der Berkenkötters selbst. Wie kann jemand mit derart antiquierten Gerätschaften arbeiten, wenn es schon seit ewigen Zeiten Pentium-Prozessoren mit 500 Megahertz gibt und Platten mit 25 Gigabyte?
Berkenkötter lächelt. Er bleibt dem Diener treu, der noch immer wie am Schnürchen Zeile für Zeile auf die schier endlosen Papierrollen fließen lässt, unzählige Verse, diesen ganzen Strom kreativer Worte, die dem Dichter bisweilen durch den Kopf gehen. Der alte Star LC 28-10 ruckelt kein einziges Mal, wenn er Berkenkötters Opus Poeticus druckt: Zweitausend Seiten Tagebuchroman in Versform, der "die gesamte Weltgeschichte" zu umfassen sucht, einschließlich der Literaturgeschichte.
Aber Berkenkötter lebt nicht im Elfenbeinturm, er lebt in Berlin, am Südstern, in Kreuzberg. Und er ist ein Kämpfer. Er kämpft um die Literatur und ums Überleben. Schon seit den achtziger Jahren, als er jeden Morgen an der Zossener/Ecke Gneisenau stand und die taz verkaufte. Zwölf Jahre lang. Von halb sechs bis halb acht am Morgen. Bis er genug hatte, um beim Bäcker die Schrippen zu holen und den Rest des Tages zu dichten.
Nein, er ist kein Nostalgiker. Gewiss, er lehnt sich an die Schultern alter Meister. Aber bewusst. Das Alte im Neuen ist sein Thema. Schiller, Hölderlin, Kleist und Goethe hat er so eingehend studiert, dass ihm ihre Worte noch immer wie ein heimatloser Bienenschwarm im Kopf herumschwirren. Er wird die alten Geister, die er rief, so schnell nicht los. Im Geleitwort zu seinen sechs Bänden mit 250 Gedichten nach Goetheschem Muster spricht er seine Lage mit einem abgewandelten Zitat aus dem Wilhelm Meister deutlich aus: "Goethe ist für aufkeimende Talente gefährlich zu lesen; er nötigt sie, ihn zu reproduzieren, und sie bilden sich ein, sich selbst zu produzieren." Das Schreiben, sagt Berkenkötter, ist ein Befreiungsprozess. Die Befreiung aus der Klammer der alten Dichter.
Goethe: Er ist eine der größten Altlasten auf dem Weg des Anselm Berkenkötter in die Gegenwart. Mit ihm ringt er seit langem. Im Bücherregal steht an vorderster Front das Gesamtwerk, in der kostengünstigen Taschenbuchausgabe für nicht habilitierte Germanisten. Kein Staubkörnchen darauf. Immer wieder musste Berkenkötter, Literat und Germanist, nach dem Genius greifen. Aber erst jetzt, nachdem er bereits 19 umfangreiche literarische Arbeiten im Stile anderer Autoren in der Schublade verstaut hat, hat sich der 46-Jährige kreativ dem ganz großen Meister zugewandt. Pünktlich zum 28. August, zum Geburtstag.
Fast täglich hat er mit der Fahrrad-Rikscha Touristen zwischen dem Brandenburger Tor und dem Reichstag hin und her transportiert, um Geld für den Druck zusammenzusparen: für den Druck seiner Dichtungen nach Goethescher Manier. Abends, wenn ihm die Beine geschwollen waren von den Hundertkilogestalten des deutschen Wirtschaftswunders auf dem Rücksitz der Rikscha, legte er Schumann auf und entschwebte ins Reich der Klassik und der Goetheschen Naturpoesie.
Mit Schumann fing es an. Mit jenen 64 Liedern, denen Goethe das Wort lieh. Berkenkötter lieh Goethe nun das Seine. Spulte den alten Komponisten vor und zurück, zwei Walkmen und die Stereoanlage kapitulierten nach unzähligen Runden vor dem Schaffenstrieb Berkenkötters. Der Dichter war vom Hören "dermaßen inspiriert", dass aus den geplanten 64 Nachdichtungen 250 wurden. Sechs Bände "Allet Jöte" - eine letzte Verbeugung Berkenkötters vor dem Dichter.
Nicht vor dem Geheimrat Goethe, der Todesurteile unterschrieb und der sich von Berkenkötter, streng im Goetheschen Versmaß, fragen lassen muss: "War's nötig, so die Kunst zu verraten? / Du hattest doch Brot! / Nicht nötig waren die Missetaten / Dein tätliches Wort." Solche Verse und viele andere hatte Berkenkötter im Gepäck, als er am 2. August mit dem Fahrrad nach Weimar aufbrach. Im Anhänger 30 Kilo seiner Gedichte, tausend selbstgefertigte Postkarten mit Goethe-Abbildungen, nach dessen Farbenlehre mit Wachskreide koloriert. Am 8. August erreichte er Weimar, und seitdem steht er da, Anselm Berkenkötter aus Berlin Kreuzberg. Steht auf dem Marktplatz, um zwischen Karotten und Spinat seine Ware feilzubieten. Hier, zwischen Gurken und Tomaten, sieht man ihn. Und wenn die Leute verwundert über sein Angebot in der Miene des Fremden nach Dichtung und Wahrheit suchen, huscht ein Lächeln über sein Gesicht.
Berkenkötter weiß: Der Dichter des 21. Jahrhunderts braucht eine Marktstrategie, das richtige Timing. Jetzt glaubt er sich zur rechten Zeit am rechten Ort. Anders als damals, als ihn dieser Verlag mit der Aussicht auf den Druck seines Romans zum Sortieren von Zeitungsartikeln als sogenannten "Lektor" anheuerte. Zwei Jahre lang schnitt er Zeitungen in Schnipsel. Und der Roman, Jonnys Trip, wurde nie veröffentlicht. Jetzt überlässt er es nicht mehr den anderen. Er hat sein Glück in die eigene Hand genommen. Im Alleingang ist er nach Weimar aufgebrochen. Optimistisch. Nur manchmal beschleichen ihn Zweifel. Dann ahnt er: "Das kann noch lange dauern" - bis man ihn hört.
Vor seiner Abreise nach Weimar schickte er ein Gedicht: An die Zeitungen: "Hochverehrte Redaktionen / Hiermit gebe ich zur Kenntnis / Dass zu Ehren des Herrn Goethe / Ich ein Werk zu Markte trage. / Das ich hiermit übersende / Frei zu Ihrer Kenntnisnahme / Um darüber zu berichten - / Oder nicht - ganz nach Belieben." Die Redaktionen beliebten, kein Wort über die Mission des Anselm Berkenkötter zu verlieren.
Frankfurter Rundschau - 1999
© Hans W. Korfmann
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