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Patente Verlierer

Eine kurze Begegnung mit Günter Jauch beim Schultheiss-Trinken im "Patentamt"

Sie ist ’ne echte Berlinerin. Da an der Ecke. Sie macht nicht auf alt, so wie Leydecke und diese andern Edelaltkneipen. Sie hat immer versucht, mit der Zeit zu gehen, was manchmal ulkig aussah.
Jetzt zum Beispiel, wo der Wirt ihr ein neues Make-up verpasst hat: Dunkelgrün. Ein paar alte Kacheln hat er gelassen an der Wand. Dort stand einmal der Kachelofen. Aber hinten, wo es zu den Toiletten geht, hängt das Foto von einem nackten Mann. Gleich neben dieser Wandtapete mit dem Berlin der zwanziger Jahre. Irgendwie ist sie stillos. Aber man könnte auch sagen: Sie hat ihren eigenen Stil. "Die gibt’s schon seit hundert Jahren", sagt Charly. Charly ist einer von der Sorte, die es mit den Zahlen nicht so genau nimmt. Außer, wenn es um Geld geht. Denn Charly steht hinter dem Tresen. Und Charly gehört das "Patentamt". Die Kneipe neben dem richtigen Patentamt.
Aber dass in den fünfzehn Jahren, die Charly jetzt hier an der Ecke ist, mal einer reingekommen wäre und eine Runde geworfen hätte, weil man ihm gerade den stummen Staubsauger patentiert hätte, daran kann sich Charly nicht erinnern. "Da kommen schon mal welche vorbei, die gerade drüben waren. Aber da sah keiner so aus, als hätte er den großen Wurf gemacht."
Trotzdem haben seine Gäste die Hoffnung nicht ganz aufgegeben. Drei Männer sind es, die an diesem Sonntag am Tresen stehen, jeder mit einer Kugel Bier vor sich. Das Angebot besteht aus Jever und Schultheiss. Das gesamte Mittelfeld bleibt frei. Die drei Männer trinken Schultheiss. Schon seit ewigen Zeiten. Sie haben graue Haare und große, viereckige, schwarze und braune Hornbrillen auf der Nase. Auch Charly hat eine solche Brille.
Die Männer kennen sich schon lange. Sie brauchen nicht viel zu reden miteinander. Sie kennen ihre Geschichten alle schon. Sie brauchen sich auch nicht anzusehen, wenn sie einmal etwas sagen. Sie kennen dieses Gesicht schon. Für Billard, Kicker oder Flipper sind die drei auch nicht mehr sportlich genug. Sie haben schon einiges aufgegeben.
Aber es gibt etwas, das sie noch nicht aufgegeben haben, und das ist die Hoffnung. Deshalb blicken jetzt alle in den Fernseher, der dort im Dunkel steht und rotes und blaues Licht in die dunkelgrüne Höhle des Patentamtes wirft. Wenn die Musik besonders dramatisch wird, flackern die Scheinwerfer des RTL-Studios wie auf dem Rummelplatz, wenn das Karussell seinen exorbitanten Höhepunkt erreicht. Die vier Männer starren wie gebannt auf den Bildschirm, neben ihnen im Aschenbecher verglühen die Stuyvesant. Endlich blinkt das kleine Lichtlein auf: "Richtig!", sagt es. 80 000 stehen schon auf dem Konto der Rentnerin. Die Herzen der vier Männer schlagen für sie. Einer rückt nun einen Stuhl vor die flimmernde Scheibe. Einer bestellt noch schnell ein Bier.
"Und was würden Sie mit zehn Millionen machen?", fragt Günter Jauch die Kandidatin. Einer der Männer murmelt etwas. Der Wirt lässt Schultheiss in drei Kugeln laufen und guckt zum Fernseher, bis ein Glas überschäumt. Jetzt murmelt auch der Wirt etwas.
Die nächste Frage lautet: "Wie viel hat 1952 die erste Bildzeitung gekostet? Zehn, dreißig oder fünfzig Pfennig?" Daran kann sich sogar einer im Patentamt erinnern: "Zehne, det weeß ick janz jenau!" – "Dafür kannst de dir nu ooch nischt koofen!", sagt der andere. Günter Jauch grinst schadenfreudig. Dann blendet RTL die "Werbung" ein.
Jetzt kommt Bewegung unter die Männer. Sie räuspern sich, heben einen Arm, strecken das krumme Rückgrat. Der Wirt schiebt drei glänzende Schultheiss über den Tresen, und die Männer versuchen, von zehn Millionen zu träumen. Aber zehn Millionen sind viel. "Was soll ich denn mit zehn Millionen!", sagt der, der Ede heißt, und geht zu den Spielautomaten. Wenn sich die Scheiben drehen, leuchten sie ein bisschen wie die Zehn-Millionen-Mark- Show.
"Nee, ich bin hier seit fünfzehn Jahren", sagt Charly, "und ich hab hier noch nie ’nen Gewinner gesehen. Mich eingeschlossen. Seit zwei Jahren versuch ich schon, die Kneipe zu verkaufen. Nix!"
Der Spielautomat gibt einige Münzen wieder zurück. Die Männer sehen kurz zu ihm rüber. Schweigend. 2 Mark 60, steht auf der Anzeige. Auf dem Bildschirm aber taucht jetzt eine Zahl mit vielen Nullen auf. Die Männer rücken schweigend die Brille zurecht, und der Wirt lässt im Billardraum schon mal den Rollladen runter. Zehn Uhr. Im Patentamt.

Frankfurter Rundschau - 2001
© Hans W. Korfmann

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