Stille, nichts als Stille
Vor 25 Jahren bezog Küster Krenz
mit seiner Familie die Räume im Seitenflügel der Heiligen
Geist Kirche
Ganz in der Nähe der berühmten Strafvollzugsanstalt
Moabit, gleich gegenüber der Moulin Rouge Bar und dem Krankenhaus,
ragt ein Kirchturm 78 Meter in die Höhe und gemahnt die Abtrünnigen
an ein Leben in Ruhe und Ordnung. Efeu und alte, baumstarke Weinstöcke
umranken die 90jährigen Gemäuer, die Fenster, Erker und
Nischen des aus roten Klinkern errichteten Gebäudes. Nachts
leuchten drei altertümliche Laternen mit spitzen Dächern
den Bewohnern heim, die Eichentüren in den handgeschmiedeten
Scharnieren öffnen sich geräuschlos. Eine Andeutung von
Frieden inmitten Moabits.
Durch das Treppenhaus mit den tadellos weißgetünchten
Wänden, entlang dem knarrenden Holzgeländer steigt ein
Mann mit einem dichten, grauen Bart, der von einem Ohr bis zum andern
reicht, buschigen Augenbrauen und einem freundlichen Zwinkern hinter
der Brille. Er steigt bis in den letzten Stock. Seit 25 Jahren bewohnt
Herr Krenz gemeinsam mit seiner Frau die Räume im Seitenflügel
der "Heiligen Geist Kirche". Stumm blicken die Rehbocktrophäen
im langen Wohnungsflur, allesamt Erbstücke seines Onkels. Christliche
Symbolik, Wandkreuze und der ehrwürdige Geruch kirchlichen
Räucherwerks fehlen in den Räumen des Kirchenwarts. Aber
Stille. Im Wohnzimmer nur das Pendeln der Uhr, die dicken, doppelten
Scheiben absorbieren die Geräusche der Straße. Durch
die strahlend weißen Gardinen mit den seitlichen Samtvorhängen
fällt das Tageslicht, sämtliche Fenster gehen nach Süden.
Im Erker steht auf einem alabasternen Sockel eine Palme und sonnt
sich von allen Seiten, und die Dieffenbachie, ein "bis zu einem
Meter hohes Aronstabgewächs" aus Brasilien, wucherte bis
unter die Decke der drei Meter hohen Räume, so daß der
Kirchwart sie ausquartierte und einen Ableger an dessen Platz stellte,
der sich längst ebenso gebärdet.
Mit großen Schiebetüren könnte man
das langgestreckte Wohnzimmer in zwei Räume teilen, und jeder
von ihnen wäre groß genug, um Känguruhs darin herumspringen
zu lassen. Aber Herr Krenz braucht Stille, Licht und vor allem Raum.
"Nichts ist schlimmer, als wenn man hochkant überall hindurchlaufen
muß. Das liegt wohl an meiner Freiheitsliebe!" Die trieb
ihn schon im Alter von vierundzwanzig Jahren nach Australien. Elf
Jahre blieb der gelernte Maschinenschlosser dort, arbeitete sich
am Rande der Wüste bei Bosch bis zum Meister hoch. Heute repariert
er die Kerzenständer für den Kirchenraum, bastelt unten
in der Werkstatt an diesem und jenem.
In der Mitte der zweiten Wohnzimmerhälfte hängen
locker geflochtene Zöpfe bunten Garns von einem Stickrahmen.
An der Wand prunkt, nicht ganz so groß wie Rembrandts Ölgemälde
"Der Mann mit dem Goldhelm", ein aufwendiges Stickwerk
seiner Frau in einem vergoldeten Rahmen. Seit die drei Kinder aus
dem Haus sind, hat die Frau des evangelischen Küsters Zeit
für solche Dinge. Auf dem Fernseher stehen die Fotografien
lachender Jungen- und Mädchengesichter, und in der Loggia,
dem fünften Zimmer der Familie Krenz, liegen noch ihre Stofftiere
in den Korbstühlen und warten auf die Enkelkinder. Der Wein,
der von unten heraufgeklettert ist, umrankt die drei Fenster des
kleinen Refugiums und würde ins Zimmer hineinwachsen, wenn
sie ihn lassen würden. Draußen hängt ein hölzernes
Vogelhäuschen.
"In der hochherrschaftlichen Zeit war die Wohnung
noch wesentlich größer, da ging sie bis hinüber
in die Birkenstraße. Ich hab noch die Klingel gefunden, mit
der sie nach dem Dienstmädchen gerufen haben. Sogar einen eigenen
Dienstbotenaufgang gab es!" Aber 112 Quadratmeter reichen Herrn
Krenz zum Leben. Und vor allem: "Ich spar das Fahrgeld zur
Arbeit!"
Von der Kirche spricht der Kirchenwart nicht viel.
Auch im monumentalen Wohnzimmerschrank aus Nußbaumholz stehen
keine frommen Bücher, sondern die 15bändige Ausgabe von
Meyers Konversationslexikon aus dem Jahre 1898. Doch nicht alles
im Leben braucht einen exponierten Platz, manches findet sich wohl
noch auf dem Nachttisch ein.
Herr Krenz lehnt sich zufrieden ins weiche Polster
der Wohnzimmergarnitur, vor sich auf dem Tisch, einer Imitation
roten Marmors, die dampfende Tasse Kaffee. "Der gute Tisch
ist schon in Bad Streben" - dort, auf dem Dorf, haben sie sich
ein Häuschen gemietet, für die Jahre danach. Stille. Weit
ist es nicht mehr bis zur Pension. Aber zuerst werden sie nach Australien
fahren und die alten Freunde besuchen. Sie werden sich Zeit nehmen,
ein halbes Jahr mindestens. Und mit dem Schiff reisen, denn seine
Frau traut den Flugzeugen noch immer nicht. +++
Berliner Zeitung - 1997
© Hans W. Korfmann
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