Zwischen Literatur & Journalismus Die Menschen StadtReportagen Reisereportagen Kolumnen, Glossen & Buchbesprechungen Hans W. Korfmann

 

Dem Jazz dicht auf der Spur

Olaf Dähmlow begann vor 27 Jahren als Putzkraft im Yorckschlösschen. Er wurde Kellner und schließlich Besitzer der Kneipe. Der Wirt mit dem Ordnungswahn entwickelte sie zu einer der besten Jazzadressen der Stadt. Jetzt hat er sie verkauft

VON HANS W. KORFMANN

Olaf Dähmlow steht hinter dem Tresen und lässt den Blick durch den Raumschweifen. Er fängt ge- rade an, ein wenig mitzuswingen, da hört der Fuß plötzlich auf zu wippen, die Hand erstarrt in der Schwebe, der Blick wird eisig und fixiert eine Stelle irgendwo auf dem alten, grauen, während 25 langer Jahre von tausenden von Jazzfans malträtierten Bretterboden des Yorckschlösschens.

Wie versteinert steht er plötzlich da, der Wirt, doch seine Gedanken rasen. Sie kreisen um eine einzige Frage: „Wie komme ich da jetzt unauffällig hin?“ Denn er ist gerade erst von einer seiner kleinen Inspektionsrunden zurückgekommen, und alle haben ihn dabei beobachtet! Jetzt setzt der Trompeter das Horn an die Lippen, keine 80 Zentimeter von jener Stelle entfernt, die der Mann hinter dem Tresen so anstarrt, als löse sich an dieser Stelle gerade jene Diele, unter der er vor Jahren eine Leiche verscharrt hat. Da schnappt sich der Wirt ein Tablett, obwohl er eigentlich längst nicht mehr kellnert, und schlendert an den Tischen vorbei, nickt einmal hier, einmal da, und nähert sich langsam, aber unaufhaltsam dem anvisierten Punkt. Dort bleibt er einen Moment stehen, als lausche er der Musik, lässt wie zufällig den Blick auf den Boden fallen und dann entdeckt er es: ein winziges Schnipselchen Papier. Er weiß nicht, hat er es vorhin auf seiner kleinen Runde mit Schaufel und Besen übersehen, oder ist es tatsächlich erst wenige Minuten, ach Sekunden alt? Blitzschnell bückt er sich, schnappt sich den Schnipsel des Anstoßes und geht zurück zum Tresen. Jetzt ist dieWelt wieder in Ordnung. Doch als der Wirt das Papierchen in den Papierkorb werfen möchte, sieht er, dass etwas darauf geschrieben steht. Er entfaltet eine kleine Botschaft und liest: „Hallo Olaf!“

Olaf Dähmlow weiß nicht, wer von seinen Freunden sich diesen Scherz erlaubt hat. „Die wissen schließlich alle, dass ich diesen Spleen habe. In unserm Alter hat ja jeder seinen Spleen.“ Olafs Spleen ist eben die „Ordnung. Wenn’s hier voll ist, dann muss eine Ordnung herrschen wie im OP!“, sagt der Wirt. Außerdemhat ja auch alles mit dem Putzen angefangen. Jeden Vormittag putzte er das Yorckschlösschen, „vier Stunden für 30 Mark“. Eine hoffnungslose „Schnapsnaseneckkneipe mit Linoleumfußboden“ war das Schlösschen, leere Tische und ein Cola-Verbrauch von zwei Flaschen am Tag. Da war Olaf 27 und wollte eigentlich an die Berliner HdK.

Jetzt, ein halbes Leben und 27 Jahre später, putzt er noch immer das Yorckschlösschen. Wenn auch gern heimlich. Weil jeder weiß, dass ihm das jetzt alles gehört, eines der berühmtesten Jazzlokale Berlins. Und das Haus obendrüber dazu. „Irgendwann hatte ich das Ding eben an der Backe“, sagt er. Es war Grage, der eine ganze Reihe legendärer Kneipen aufmachte, die Ruine am Winterfeldtplatz, die Meisengeige, den Dschungel, und der jedes Mal, wenn er irgendwo aufhörte, die Gäste gleich mitnahm. Auch ins Yorckschlösschen. „Lauter Künstler oder solche, die es gerne gewesen wären, Literaten, Bohemiens, auf jeden Fall alles ordentliche Trinker. Drei Hauereien am Tag waren die Regel.“ Olaf hatte hinterher immer ordentlich was aufzuräumen, seitdem Grage Chef war. Und irgendwann sagte dieser Grage zu Olaf: „Komm, mach mal den Kellner!“

Der geborene Kellner war er nicht. Er trank nie. Als Kalle irgendwas von Metaxa erzählte, ging Olaf zum Telefon und rief ’ne Taxe. „Mann!“, meinte Kalle irgendwann ungeduldig, „wo bleibt ’n dette?“ „Kommt gleich!“, sagte Olaf, „ist schon bestellt!“ Kalle nahm’s lässig, als statt des Metaxas ein Taxi kam. Kalle kommt heute noch. Sie verstehen sich jetzt besser. Olaf trinkt inzwischen gerne mal ein Bierchen, „aber kontrolliert!“ Ordnung muss sein. Wie im OP.

Oder wie damals bei Hertie, vor Berlin. Wo sie ihn rausgeworfen haben. Ihn, den jüngsten Abteilungsleiter ganz Deutschlands, gerade mal 25 Jahre alt. Dem alle eine steile Karriere voraussagten. Bis eines Tages dieser Typ im weißen Anzug zu ihm sagte, er sei entlassen. Nur weil er sich einen Tag freigenommen hatte.

Aber wäre der Mann in Weiß nicht gewesen, wäre Olaf wohl nicht in diese Frankfurter WG gezogen, hätte wahrscheinlich nie angefangen zu studieren und nie als Statist sein Geld verdient. Wäre nie mit solchen Sternchen wie David Bowie und Marlene Dietrich in „Schöner Gigolo, armer Gigolo“ zu sehen gewesen. Wenn jetzt Filmemacher kommen und im Yorckschlösschen einen „Tatort“ oder einen Musikfilm drehen, dann spielt Olaf Dähmlow immer den Olaf, den Mann hinterm Tresen. Und das ist gut so. Der Tresen „ist die wahre Bühne!“ Hier laufen die Fäden zusammen. Hier ballt sich das Leben. Hier kommen sie rein und erzählen ihre Geschichten, seit 27 Jahren. Hier hat er sie alle kennen gelernt, die Freunde. Das Schlösschen ist sein Leben, sagen sie. Ohne das Schlösschen kann der nicht leben.

Und ohne Musik auch nicht. Auch wenn er die Tuba schnell wieder an den Nagel gehängt und sich aufs „Waschbrett verlegt“ hat. Damit zieht er dann los, zum Karneval nach Köln, jedes Jahr, mit ein paar andern, die sich alle irgendwie aus der Kneipe kennen, die so genannte „Rasselbande“, weil außer dem harten Kern der Blue Bayou Band nur wenige etwas vom Musikmachen verstehen, und deshalb mit irgendetwas Klapperndem in die „Rhythmsection“ integriert werden. „Dieser blöde Karneval ist eins der beiden Highlights“ im Leben des Olaf Dähmlow.

Das zweite Highlight ist das Jazz & Heritage Festival in New Orleans. „Das ist das Festival überhaupt, Fats Domino, BB King, die Neville Brothers, Joe Cocker, Bob Dylan.“ Die Liste der Legenden, die die Delegation aus dem Schlösschen dort hörte, ist lang. Und zwischen den Festtagen ziehen die Yorckschlössler dann durch die Jazzkneipen von New Orleans, hängen in so wunderbaren Kneipen wie in Donna’s Bar & Grill herum.

Wolfgang Rügner, einer der besten Freunde des Wirtes, gerät ins Schwärmen, wenn er an diese Kneipe denkt. Wo man bis vor zwei Jahren noch „durch die Musiker durch musste, um pinkeln zu gehen“, weil die mit ihren Instrumenten vor den Toilettentüren standen. Wo in der winzigen Küche ein Motorrad stand „und wo für nix Leute spielen, die ’nen Abend vorher die teuersten Konzertsäle gefüllt haben“.

New Orleans und seine Kneipen, diese Orte aus Jazz und Bier und Motorrädern: Olaf Dähmlow, der einstige Abteilungsleiter, der auf die Harley umsattelte, der Antialkoholiker, der jetzt mit Metaxa und Whisky handelt, er ist dem Jazz dicht auf der Spur, verfolgt ihn in die Seitenstraßen, in entlegene Viertel, wo er Bilder sammelt, Musiker fotografiert, Mülleimer, Tresen, Speisekarten. Manchmal bringt er etwas mit, so wie den Posaunenkoffer, der jetzt an der Decke baumelt, und auf dem steht: „Preservation Hall“. Dähmlow ist der Berliner Botschafter des New-Orleans-Jazz, 13 Live-CDs hat er „in der Yorckstraße eingespielt“, er organisiert das Jazz-Fest in der Bergmannstraße, ist Mitbegründer der Jazzinitiative Berlin und des Jazz Award Berlin. Und er hat den Traum von einem großen internationalen Jazzfest in Berlin.

Und Dähmlow meint es ernst, wenn er träumt. Einmal fuhr er bis nach New York, nur um sich einen Traum zu erfüllen. Da stand er an der verschlossenen Glastür des „Apollo Theaters“ und drückte sich die Nase platt, bis er die Schulklasse sah und wild winkte. Sie ließen ihn rein, und drinnen hingen an den Wänden die Fotografien schwarzer Musiker, aber die kleinen, schwarzen Kinder kannten keinen. Der aus Berlin aber kannte sie alle. Am Ende stand er dann wirklich da, wo er hinwollte: auf der Bühne des „Apollo-Theaters“. Dort, wo auch er einst gestanden hatte: James Brown. Dähmlow kann reden wie ein Tonband. Aber diesen Augenblick, als er da stand, den kann er nicht beschreiben.

Auch über den Koch will er nicht viele Worte machen. Den Koch, der sich in die Kellnerin verliebt hatte. Im Dezember letzten Jahres fuhren sie nach Thailand. Die Kellnerin kam allein zurück, der Koch und der Sohn blieben im Wasser. Die vom Schlösschen haben ein Benefizkonzert veranstaltet, die Musiker, die Belegschaft, benachbarte Wirte, Freunde und Gäste – diese ganze große Familie eben. So ist das Leben im Yorckschlösschen, da verknoten sich und da lösen sich die Fäden, die das Schicksal spinnt. „Es ist nicht immer leicht“, sagt Olaf Dähmlow, „es istmanchmal sogar verdammt hart. Manchmal denke ich, ich verkaufe. Und mache ganz was anderes!“

Wenn der Wirt das sagte, dann lachten sie. Ohne seine Ordnung im Schlösschen würde Olafs ganzes Leben in Unordnung geraten. Und jetzt hat er es tatsächlich verkauft! Und keiner von all diesen Freunden, die ihm kleine Papierschnipsel hinwarfen, die mit ihm zum Karneval fuhren, nach Amerika, keiner von ihnen merkte etwas von den ernsthaften Gesprächen, die er mit einem seiner Stammgäste schon ein halbes Jahr geführt hatte. Den er sogar mitgenommen hatte zum Festival nach New Orleans. Diesen Keith Stone mit seinen Rastalocken, der aussieht, als verstehe er nur Reggae und nichts als Reggae. Doch er versteht den Jazz. „Ich habe ihn auf Herz und Nieren geprüft. Er ist der richtige Mann.“ Denn auch wenn Dähmlow nun den Platz hinter dem Tresen gegen den vor dem Tresen tauscht – das Schlösschen bleibt sein Lebenswerk.

Er hat über diese Trennung lange nachgedacht, er wird es nicht bereuen. Auch wenn er später vielleicht einmal etwas melancholisch an jenen Tag zurückdenken wird, als drüben in der Nulpe eine Combo spielte, und als er mal rüberging, um zu hören, was die da spielten: Und das haute ihn um, daswar richtig guter Jazz. Der Wirt von der Nulpe meinte irgendwann zu der Truppe: „Lasst mal gut sein!“ Olaf aber ging zu dem Mann mit der Gitarre und sagte: „Komm mal rüber zu mir.“ Das war der Beginn des Yorckschlösschens. Der Mann hieß Rudy Stevenson. Auch er gehört inzwischen längst dazu. So wie Wolfgang Rügner. Und viele andere. Deren Geschichten eigentlich auch noch alle zu erzählen wären.

taz - 2005
© Hans W. Korfmann

zurück