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Ein Bier für die Kampfgenossen im Vorruhestand

Vom Glottertal über Kreuzberg nach Nicaragua und ein Stück zurück: Johann Georg Scharbach ist jetzt Wirt.

Ab einem gewissen Alter braucht man seine Rituale. Sonst läuft das Leben aus dem Ruder. Vor allem früh am Morgen. Vor allem, wenn die Nacht lang war. Und als Kneipier gehört man immer zu den letzten, die das Lokal verlassen. Johann Georg Scharbach beginnt seinen Tag im "Atlantic" in der Bergmannstraße und lässt sich von der Konkurrenz eine Zeitung, einen Kaffee und ein Müsli servieren. Die Zeitung und der Kaffee gehören schon lange zum Brauch. Das Müsli ist neu. Man muss eben auch mit fünfzig noch flexibel sein.
Dabei hat gerade die "Müslifraktion" dem Mitbegründer des Mehringhofs das Leben schwer gemacht. Schließlich stürzte die zunehmende Stärke der Wollsocken an den Diskussionstischen des als Kneipenkollektiv getarnten politischen "Spectrums" die Revoluzzer in eine Identitätskrise. Zwar brachte es das "Spectrum" als Herausgeber der Zeitschrift Radikal noch bis in die Charts des amerikanischen Index, doch nach vier Jahren des Kampfes gegen die Unterwanderung ihrer politischen Ziele durch Getreidekorn und Joghurt gaben sie schließlich auf und verkauften sämtliche Anteile am Mehringhof, besorgten sich ein Flugticket, investierten die gesamten 150 000 Mark in ein Projekt zum Aufbau Nicaraguas und wurden dafür nicht nur von der Müslifraktion, sondern allseits belächelt.
Aber so ist er, der "Hansi". Ein Archetypus aus den Zeiten, als political correctness noch nicht der Rede wert, sondern selbstverständlich war. Aus einer Zeit, als Gesinnung noch Bestimmung war. Korrekt, ohne viele Schnörkel, linientreu. Mit der Ausnahme vielleicht, dass Hansi sich irgendwann diese rauschende Reminiszenz an Che, Marx und Fidel abgeschnitten hat: Der lange Bart stand dem Müsli immer im Wege.
Sonst blieb Hans Hans. "Schon damals im Glottertal - das muss ich mir zugute halten - hatte ich eine gewisse Antipathie gegen Bundeskanzler. Ich bin nie mitgegangen, wenn der dicke Erhard mit seiner stinkigen Zigarre zu Besuch war. Aber die anderen sind alle mit. Wandern!" Daran erinnert er sich, wenn er manchmal im Fernsehen den Trailer der Schwarzwaldklinik sieht, wenn plötzlich aus der Ferne dieses Schloss auftaucht, wenn aus der Vogelperspektive der Gegenwart seine Kindheit wieder näher rückt.
Dort nämlich, im Glottertal, ist er aufgewachsen, seine Mutter war das Zimmermädchen, der Vater der Gärtner. "Eine wunderschöne Kindheit" hatte er, schöner noch als im Fernsehen. Er spielte mit Kühen und Schafen, am Bach und im Wald. Die Tochter des Hauses war drei Jahre älter als er und hatte spitze Knie. Sie waren eine ganze Horde und machten jeden Tag das Schloss unsicher. Nur wenn der Dicke mit dem stinkenden Stumpen im Mund seine Ausflüge machte, haute Hansi ab. Er hatte keine Lust zum Wandern. Die kam erst später. Und dann ging es weit in die Welt hinaus.
Kreta, Nordamerika, Spanien, Nicaragua warteten, der Mehringhof und das "Spectrum", die Auftritte mit der Punkband "Knapp Daneben", in der er ganz vorne stand mit dem Saxophon, mit dem Akkordeon und der rauchigen Stimme, vorn auf der Bühne des "Quartier Latin", Potsdamer Straße, wo heute der "Wintergarten" residiert.
Und später gar der Fernsehauftritt in der Tagesschau, als die Contra-Rebellen in Nicaragua einen ihrer Mitstreiter erschossen und Hansi mit der Kreuzberger Brigade die Botschaft in Managua besetzte. Stolz rief die Mutter sämtliche Verwandten im oberen und unteren Glottertal an: "Du, der Hansi ist im Fernsehen!" Und in Berlin besetzten die Daheimgebliebenen den Mehringdamm und die Gneisenaustraße.
Viermal war Hans Georg Scharbach im fernen Bruderland. In zwei Jahren haben sie eine Seifenfabrik und zwei Schulen gebaut, mit den arbeitslos gewordenen Technikern der versenkten Piratensender Radiostationen errichtet und einen sechzig Meter hohen Sendeturm um zwanzig Meter verlängert. Als die Contras bis auf zwei Kilometer herangerückt waren, schoben die Kreuzberger nachts Wache. Sie holten Wasser mit dem Esel aus einem hundert Meter tiefen Brunnen und saßen mit den Leuten aus ihrem nicaraguanischen Dorf am Feuer und rauchten. Man mochte die Fremden, auch wenn man nie ganz verstand, weshalb die von so weit herkamen, um dann umsonst zu arbeiten. "Und weshalb diese Kreuzberger die Revolution eigentlich so ernst nahmen. Im Grunde interessierten sich die Leute im Dorf gar nicht für die Politik." Aber schließlich ging es damals noch immer um die Weltrevolution.
Auch Hans ging es ums Ganze. Nur am 1. Mai 1987, der ersten großen Krawall-Nacht in Kreuzberg, war er nicht mit von der Partie, sondern lag etwas blass im Krankenhaus, das Lied von der untergehenden Sonne vor Capri im Kopf, als im Fernseher die Nachrichten kamen und er den Song schrieb: "Wenn vor Cuba die 6. Flotte im Meer versinkt, in Nicaragua die FSLN den Yankees eine klinkt, wenn in Kreuzberg der Stein sich ins Schaufenster senkt und bei Bolle das Regal endlich lichterloh brennt ...". So war das damals. Heute ist das Leben etwas ruhiger. Die Zeiten des Musikers, des Gerüstbauers, des Malergesellen, des Raumausstatters sind vorüber. Auch die Jahre des Erziehers im Eichenhof, in dem sich einst Ulrike Meinhof noch um die schwer behinderten Kinder kümmerte. Nicht einmal Hansi heißt er mehr, die meisten nennen ihn Matto. So wie seine Kneipe. Das Haar schimmert silbrig, ein Zopf fesselt den spärlicher gewordenen Haarwuchs, die Augen hinter der Brille sind aufmerksam. Matto läßt sich Zeit zum Bierzapfen und zum Antworten. Er hat keine Parolen mehr parat. Er denkt bei jeder Frage, egal, wie oft er sie schon gehört hat, noch einmal von Neuem nach.
Täglich steht er hinter dem Tresen und blickt auf den Chamissoplatz. Er kennt sie alle, die Arbeiter, die Alkoholiker, die Künstler und ihre Therapeuten, die Alten und die Jungen. Auch die türkischen Jungs, die sich noch immer gegenüber auf dem Spielplatz treffen, obwohl sie längst den Führerschein haben. Matto ist einer der wenigen, zu denen sie noch kommen, um sich Streichhölzer zu holen, Zigaretten, oder um zu telefonieren. Sie halten mit dem BMW vor seiner Tür, drücken die Kassette rein und bringen die altgewordenen Achtundsechziger in ihren renovierten Altbauwohnungen am Chamissoplatz allmählich in Gewissenskonflikte. Matto bleibt ruhig. Ihn stören die einen und die andern nicht. Dadurch gerät er zwischen die Fronten. Zwischen die einstigen Kampfgenossen im Vorruhestand und den kämpferischen Kreuzberger Nachwuchs vom Kinderspielplatz.
Auch die Flasche, die eines Nachts aus dem dritten oder vierten Stock segelte und zwischen den jungen Männern wie eine Bombe auf der Kühlerhaube aufschlug, brachte ihn nicht aus der Fassung. Die jungen Männer, die um das glänzende Auto herumstanden, allerdings schon. Kurz entschlossen stürmten sie die einzige Wohnung, in der noch Licht war. Matto schilderte der Polizei in aller Ruhe, was geschehen war. Unparteiisch und wahrheitsgemäß. Ein guter Wirt ist auch ein guter Schiedsrichter. Matto ist ein guter Schiedsrichter. "Außer, es spielt Borussia Dortmund." Parolen zitiert Matto, Hansi, Johann Georg Scharbach nicht mehr. Er bildet sich seine Meinung jeden Tag neu. Er kommt aus dem Glottertal, aber ein Dickschädel ist er nicht. Sogar zum Müsli hat er sich bekehren lassen. Man muss flexibel bleiben.

Frankfurter Rundschau - 2000
© Hans W. Korfmann

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