Kreuzberger Chronik
Eine türkische Familie (Schluss)
Es war die aufgeregte Stimme des Bruders, die ihn
weckte. In einem türkischen Dorf, mitten in der Nacht: "Steh
auf, dein Vater ist da!"
Serdar glaubte ihm nicht. Er glaubte überhaupt
nicht mehr daran, dass der Vater eines Tages zurückkommen würde.
Dieser Vater, den er nur aus Erzählungen kannte. Von dem es
nicht mehr gab als ein Foto in der Vitrine des Schranks - neben
dem Großvater, der auch schon längst tot war. Das einzige
schwache Lebenszeichen dieses Vaters war eine Stimme, die manchmal
durchs Telefonkabel flüsterte.
"Serdar, steh auf, dein Vater ist da!" Serdar
drehte sich wieder auf die andere Seite. Er wollte weiterschlafen.
Sie sollten ihn in Ruhe lassen mit diesem Vater.
Serdar war jetzt sieben Jahre alt, ohne dass er diesen
Vater ein einziges Mal gesehen hatte. Er war sich sicher, dass ihm
die Geschwister Märchen erzählten, dass es den Vater gar
nicht gab. Denn wenn es ihn gab, warum hatte er sie dann im Stich
gelassen? Warum war er nicht da gewesen, als sich der Bruder das
Bein brach und als ihnen das Geld für die Operation fehlte?
Als sie bei den Verwandten betteln gehen mussten, damit man das
Bein wieder richtete? Und als Ilja sich das Bein ein zweites Mal
brach? Noch heute zieht er es nach. Warum ist dieser Vater nicht
dagewesen, wenn es ihnen schlecht ging? Wenn die Mutter in der Küche
saß und weinte?
"Serdar, dein Vater ist da!"
Als Serdar die Augen öffnete, sah er einen fremden
Mann an seinem Bett. In der Hand hielt er eine riesige Tüte
voller Süßigkeiten. Serdar schüttelte den Kopf.
Mit einer Tüte Bonbons wollte dieser Mann die vergangenen acht
Jahre aus der Welt schaffen. Aber Serdar war nicht bestechlich.
Das war nicht sein Vater. Serdar ging zum Schrank, holte das Foto
aus der Vitrine und verglich das alte Bild mit der neuen Wirklichkeit.
Beide Männer hatten ein Grübchen am Kinn.
Die Mutter war jetzt aufgestanden, hatte Tee gebracht
und begann, den Tisch zu decken. Um drei Uhr in der Nacht. Alle
waren sie plötzlich da, die Geschwister, die Verwandten, Bekannte...
Und alle freuten sich, dass er wieder da war, dieser Mann, der sie
so lange im Stich gelassen hatte, und den sie alle nicht mehr verstanden
hatten.
Am nächsten Morgen hat sich der Fremde die Flinte
umgehängt, Serdar an der Hand und mit auf die Felder genommen.
Zur Hasenjagd. Serdar war noch nie auf der Jagd gewesen. Serdar
hatte auch noch nie auf einem Pferd gesessen. Jetzt lernte er reiten.
Lernte die Pistazien und Oliven vom Baum schlagen, das Land kennen,
das ihnen gehörte. Der Vater nahm sich Zeit, fast zwei Monate,
um die verlorenen acht Jahre nachzuholen. Allmählich glaubte
Serdar, dass Süleyman sein Vater war. Der erzählte, dass
sie es in Zukunft besser haben sollten hier. Dass er sie alle nach
Deutschland bringen würde. Bald schon. Und dass sie dort zur
Schule gehen und etwas Richtiges lernen würden.
Zuerst einmal aber holte der Vater die Mutter. Sie
sollte sich dieses unbekannte Land ansehen und entscheiden. Serdar
und seine Geschwister folgten erst ein Jahr später in die Fidicinstraße
34. Dort lud der Vater alle zum Essen ein, in die "Pizzeria
Primavera" in der Kreuzbergstraße. Da geht Serdar noch
heute manchmal mit der Freundin hin - zehn Jahre danach. Und noch
heute werden die großen braunen Augen noch ein bisschen größer,
wenn er an damals zurückdenkt. Der kleine Vater war bekannt
im fremden Land: Wo sie auch hinkamen, er brauchte nur die Hand
zu heben oder zu lächeln, und schon grüßten sie
ihn. Er sprach ihre Sprache, und er hatte immer Geld in der Tasche.
Serdar hatte kein Geld in der Tasche und verstand
kein Wort. Er stand mit seinem Bruder im dritten Stock am Fenster
und blickte in diese Lücke zwischen den Häusern, in der
Kinder Fußball spielten. Der Vater hatte es ihnen verboten,
aber dann sind sie trotzdem runter gegangen. Und dann sprachen diese
Kinder plötzlich seine Sprache! Sprachen türkisch! Von
da an ist er jeden Tag bei ihnen unten gewesen.
Die Lehrer in der Hans-Sachs-Hauptschule sprachen
kein Türkisch. Serdar wiederum machte sich nichts aus Deutsch.
Auf dem Fußballplatz brauchte man kein Deutsch. In der Schule
entschied er sich fürs Schweigen. Deshalb stand auf Serdars
ersten Zeugnissen meistens der Vermerk: Ohne Beurteilung. "Aber
in der vierten oder fünften Klasse", erzählt Serdar,
und seine Augen werden wieder ein bisschen größer, "da
hatte ich dann schon Vieren und Fünfen im Zeugnis!"
Viel besser ist er nie geworden. Denn Serdar ist anders
als sein Vater. Er ist das Gegenteil von Süleyman. Er kann
nicht lächeln, wenn es nichts zum Lächeln gibt. Er kann
nicht schweigen, wenn Unrecht geschieht. "Wir Ausländer
haben es nicht leicht. Wir bekommen immer für alles die Schuld!"
Deshalb schleuderte er dem Lehrer eines Tages dieses Wort entgegen,
das ihm der Nachbar zugeflüstert hatte: "Arschloch!"
- Eine Woche wurde er vom Unterricht "suspendiert". Aber
die Erziehungsmaßnahme half wenig. Immer wieder stand Serdar
jetzt auf und begann zu schimpfen, immer häufiger verzichtete
Serdar auf die Schulbank.
Bis eines Tages der Lehrer Zander in diese großen
Augen blickte. Der gab ihm am Ende sogar eine Empfehlung für
die Gesamtschule mit auf den Lebensweg. Aber schon nach wenigen
Wochen hatte sich der junge Kurde mit den Pädagogen zerstritten.
Als Serdar nicht mehr weiter wusste, ging er zum Jugendamt. Dort
wunderte man sich nicht wenig über diesen Jungen, der freiwillig
den Weg zu ihnen einschlug. "Aber für wen sollte denn
dieses Jugendamt gut sein, wenn nicht für Jugendliche! Das
sagt doch schon der Name."
Man gab ihm eine Reihe guter Ratschläge. Er solle
sich nicht aufregen! Wenn er Ärger mit den Lehrern habe, dann
solle er einfach bis zehn zählen, und irgendwann sei es dann
vorbei! Serdar lacht: "Ich habe dann bis zehn gezählt
und bin ganz ruhig geblieben und hab' nichts mehr gesagt. Und da
haben sie sich noch mehr aufgeregt!" Serdar ist anders als
sein Vater. Er kann bis zehn zählen, aber er kann nicht freundlich
lächeln dabei. Wenn Unrecht geschieht, oder wenn er Unrecht
empfindet. Er kann böse aussehen, dieser Serdar, wenn Unrecht
geschieht.
So blieb nur der Fußballplatz, um zu wachsen.
Und die Wasserturmclique. Da fühlte er sich wohl. Manchmal
waren sie fünfzig im Café des Jugendclubs, eine bunte
Mischung, Polen, Afrikaner, Deutsche, Türken... "Richtig
multikulti" - Als der Club eine Reise nach Stettin unternahm,
lernte er Marcel und Ronny kennen. Das sind noch heute seine besten
Freunde. Deutsche. Serdar macht da keinen Unterschied. "Alle
Menschen sind gleich." Das hatte schon der Urgroßvater
gesagt. Und hier im Wasserturm, da verband sie doch einiges miteinander.
Hier waren die wenigsten geniale Mathematiker.
Anders waren höchstens die aus dem Viktoriapark.
Wenn die vom Chamissoplatz mit ihren Rädern im Viktoriapark
unterwegs waren, dann bewegten sie sich sozusagen auf feindlichem
Terrain. Und wenn sie dort herumkurvten, als gehöre der Berg
ihnen, dann gab es schon mal Streit. Dann ergab ein Wort das andere,
und eine Faust forderte die nächste. "Das war ja früher
auch nicht anders. Jede Straße hatte da ihre Bande, das waren
alles Reviere, die man sich untereinander aufteilte."
Das Dumme war nur, dass die deutschen Eltern wegen
jedem "blauen Auge" gleich zur Polizei liefen. Die türkischen
Familien regelten so etwas lieber untereinander. Und oft klappte
das ja auch. Serdar aber stand eines Tages vor dem Jugendrichter
und musste zur Strafe zwei Tage in einem Blumenladen arbeiten. Vielleicht
warf auch der ältere Bruder ein trübes Licht auf Serdar.
Denn der war in eine größere und kompliziertere Geschichte
verwickelt gewesen. Der hatte irgendwann seinen Job verloren und
sich dann zu einer Sache überreden lassen. Er ist da so reingeschliddert.
Die schliddern alle in so was rein. Freiwillig macht das doch niemand.
"Das ist so eine Kettenreaktion. Wenn ich auf der Schule geblieben
wäre", sagt Serdar und überlegt, ob er weitersprechen
soll, "... ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre!"
Aber Serdar blieb nicht auf der Schule. Das Jugendamt
war tatsächlich für Jugendliche da. Es vermittelte ihm
einen Ausbildungplatz. Als er das Papier in den Händen hält,
kommen ihm die Worte seiner Lehrer noch einmal in den Sinn: "Aus
dir wird nie etwas! Du kriegst doch nie einen Ausbildungsplatz!"
Serdar packte den Beweis in seine Hosentasche und schlug den Weg
zur Schule ein. "Denen blieb der Mund offen! Zwei oder drei
haben mir noch Glück gewünscht. Aber einer meinte, ich
würde da eh gleich wieder rausfliegen."
Seit drei Jahren ist er in der Ausbildung. Mit ihm
einer seiner alten Freunde vom Wasserturm, Marcel. Serdar ist eine
treue Seele. Drei Jahre ist es her, dass er Stephanie auf dem U-Bahnhof
ansprach. Stephanie, die gerade ihre Ausbildung als Krankenschwester
begonnen hatte. Serdar hatte so schöne braune Augen. Er war
ein bisschen schüchtern, und er konnte nichts verheimlichen.
Er war immer so, wie er war. Undiplomatisch. Ganz anders als der
Vater. Jetzt sitzt Stephanie auf Süleymans Sofa, trägt
das Essen auf den Tisch und spielt mit den Enkelkindern und spricht
Türkisch.
Serdar ist ein bisschen stolz, wenn er abends um fünf
müde von der Arbeit kommt. Ein halbes Jahr noch, dann ist er
verbriefter Gas- und Wasserinstallateur. Dann verdient er keine
800 Mark mehr, sondern das Dreifache. Er ist sich sicher, dass er
Arbeit findet. Man hat ihm Hoffnung gemacht, man hat ihm gute Zeugnisse
ausgestellt. Er hat sich bei der Feuerwehr erkundigt, die arbeiten
in drei Schichten, schlafen übereinander. Das ist spannender,
und man verdient 4000 Mark. Serdar ist voller Optimismus.
Vielleicht kann er sogar etwas sparen. Für ein
Haus. Ein Haus für seine Familie. "Ein Haus auf den Bahamas!
Davon träume ich. Weil - es gab da mal einen Film. Carlitos
Way mit Al Pacino. Da kommt ein Mann aus dem Gefängnis, aber
er hat irgendwo noch Geld versteckt. Er träumt davon, sich
mit seiner Frau, die auf ihn gewartet hat, in ein schönes Haus
zurückzuziehen und in Frieden zu leben. Aber da sind noch andere
hinter seinem Geld her. Und dann, er hat schon die Tickets für
die Bahamas und seine Frau wartet am Flughafen, ja - dann wird er
erschossen."
Frankfurter Rundschau - 2001
© Hans W. Korfmann
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