Da kommt sie, längst schon eine Legende,
fast schon ein Phantom. Eine charismatische
Gestalt hat sie nicht, kein Gandhi und
keine Mutter Theresa - sie ist ein altes, kleines
Mütterchen. Gesenkten Hauptes, langsam,
unscheinbar, friedlichwie eine bebrillte
Schildkröte aus einem Trickfilmer scheint
sie im Klosterhof. Nur die klassisch-griechische
Nase sticht aus dem Unschuldsgesicht
wie dieWaffe eines Raubvogels.
Stundenlang haben die gläubigen Besucher
unter der heißen Frühlingssonne der Insel
Lesbos gewartet. Hunderte sind es, die
sich im engen Hof des Klosters
Agios Raphael drängen, um ein
Foto zu knipsen, wenigstens einen
Blick zu erhaschen auf die
kleine Gestalt der Evgenia Kleidara,
die alle „Heiliges Mütterchen“
nennen, und die sich ganz
vom weltlichen Leben abgewandt
hat, weder in Zeitungen
noch im Fernsehen erscheint.
Doch einmal im Jahr tritt sie leibhaftig vor
die Massen: Am Dienstag nach dem griechisch-orthodoxen Osterfest erweist das
Kloster in der Nähe der Inselhauptstadt Mytilini
seinem Namensgeber die Ehre, und die Äbtissin trägt des Heiligen Raphael unsterbliche Überreste in einer großen Prozession
einmal rund um den geweihten Boden. Die
Reliquien ruhen auf einem roten Samtkissen,
verborgen unter einer reich verzierten
Silberhaube. In diesem Jahr fällt das Osterfest
auf den 23. April, und wahrscheinlich
wird die Zeremonie ganz ähnlich ablaufen
wie im vergangenen Jahr.
Dem Märtyrer und seiner Bewahrerin ist
der unaufhaltsame Aufstieg des Klosters
Agios Raphael zu verdanken. Innerhalb eines
halben Jahrhunderts wurde es zu einem
der bedeutendsten Ziele des griechischen Pilgertourismus,
mitten in der in der Eintönigkeit
der Olivenhaine des Dorfes Thermi. Raphael,
der einst als Mönch hier gelebt haben
soll, gilt als derzeit populärster unter den
Märtyrern. Die unchristlichen Türken aus
Kleinasien, so die Legende, hängten ihn vor
545 Jahren kopfüber an einen Baum, wo sie
ihm zuerst den Unterkiefer und dann den
Kopf abschlugen. Man weiß das alles noch
sehr genau, zu viel haben die Griechen unter
den Türken gelitten, um zu vergessen. Auch
die Äbtissin des Klosters, Evgenia Kleidara,
erzählt gerne vom Märtyrer Raphael. Sie hält
die Erinnerung an ihn am Leben, denn viele
Menschen suchen ihn.
300 Pritschen für die Pilgerfahrer
Im Sommer rollen voll besetzte Reisebusse
die frisch asphaltierte Straße zum Kloster hinauf,
an denWochenenden ist der Parkplatz
auf dem Dach der Pilger-Herberge mit ihren
300 harten Pritschen hoffnungslos überfüllt.
Vor dem Sarkophag des neuen Heiligen stehen
die Pilger Schlange und schlagen ihr
Kreuz beim Anblick der vielen
Krücken all jener, die plötzlich
wieder laufen konnten und ihre
Stöcke gleich in der Kirche stehen
ließen.
Seit die Kunde vomheilenden
Raphael die Runde macht, glauben
auch die Exilgriechen in
Deutschland und in den Staaten
an ihn. Manchmal kommen sie
vom andern Ende der Welt, um wenigstens eine
Kerze angezündet zu haben, wenn es einmal
schlechter gehen sollte mit der Gesundheit,
und um eines der Wunder-Bücher zu erstehen,
an denen Evgenia Kleidara emsig
schreibt. Inzwischen ist sie bei Band 45 der „Neuen Wunder von Agios Raphael“ angelangt.
Stapelweise gehen die Werke der Äbtissin über den Verkaufstisch des Klosters.
Evgenia Kleidara ist das letzte Bindeglied
zwischen Raphael und dem gläubigen Volk.
Noch vor 50 Jahren sprach man im ganzen
Dorf von diesem Mönch, der den Menschen
in Thermi ständig im Traum erschien und
darum bat, man möge endlich seine Gebeine
ausgraben und regelgerecht bestatten.
Erst als im September 1959 beim Bau einer
kleinen Kapelle die alles bewegenden Knochen
gefunden wurden, verschwand der
Mönch allmählich aus den Träumen der
Menschen. Nur die Äbtissin Kleidara
träumt bis heute von ihm, sagt sie.
Sie hat ständigen Kontakt, auch tagsüber.
In ihren Büchern beschreibt sie, wie sie ihm
zum ersten Mal begegnete, wie er ihren Namen
rief und „plötzlich seinen Schäfermantel
öffnete“ und sie „zu Tode erschreckte“,
als sie sah, „dass er nur ein Skelett war!“ 40
Jahre später allerdings haben die beiden ein
vertrautes Verhältnis zueinander. Er steigt
schon einmal zu ihr ins Auto und sagt, sie
solle nicht nach Gera fahren, sondern auf
der Stelle umkehren. Er kümmert sich um
die alten elektrischen Leitungen, er weckt
sie des Nachts, wenn ein Feuer im Kloster
ausbricht oder eine Nonne erkrankt. Er ist
immer da, wenn etwas passiert, und die Bestsellerautorin
Kleidara auch. Sieben Millionen
Rapael-Bücher soll sie verkauft haben.
In Thermi allerdings hat mancher so seine Zweifel
an dem Paar. Pagonis, der Fischer,
erinnert sich noch daran, wie die junge Äbtissin
eines Tages an der Straße stand und
ihn anhielt, als er mit seinem knatternden
Moped vorbeikam: „Weißt Du, wo ich ein
Haus mieten kann?“ - „Das Haus vom Lehrer
ist frei!“, sagte Pagonis. „1961 oder 1962
muss das gewesensein. Die wusste schondamals
genau, was sie wollte...“
„Die wollte Geld machen, sonst nichts",
mischt sich ein Hirte ein. „Die wusste, dass
sich unsere Wunder gut verkaufen lassen!“
Prominenter Besuch an Ostern
Evgenia Kleidara selbst schreibt, sie habe
schon auf der fernen Insel Chios von Raphael
geträumt. Kaum habe sie den mystischen Ort
betreten, da sei er auch schon aufgetaucht: „Du wirst keine Kirche für Magdalena bauen,
du wirst ein Kloster für mich bauen.“ Drei Jahre
nach dem Fund der Knochen wurde Evgenia Kleidara vom Bischof
von Mytilini zur Äbtissin
eines Frauenklosters namens Klosters
Agios Raphael berufen. Zu Recht. Sie hatte
die Ärmel hochgekrempelt, ihren wohlhabenden
Vater überredet, ihr Geld zu geben, und
verhandelte mit den Bauern über ein Stück
vom Berg. Als die sich sträubten, erschien ihnen Raphael und sprach ein Machtwort.
Heute
gibt es keine Kirche auf Lesbos, die nicht
eine Ikone des neuentdeckten Heiligen beherbergt,
keinen Hafen, in dem nicht ein Schiff
seinen Namen trägt. Ohne die Äbtissin wären
die Geschichten um Raphael vielleicht bald
wieder vergessen gewesen.
So aber machen am Dienstag nach
Ostern Politiker und Prominente dem Kloster
ihre Aufwartung. Der Bischof von Lesbos hält die Messe, und das Militär bedankt
sich mit Blasmusik für denÜberwachungssatelliten,
den Kleidara zur Beobachtung
der feindlichen Küste spendiert hat. Bis die
lebende Legende wieder im Kloster verschwindet.
Um sich an ihren Schreibtisch
zurückzuziehen, vor ihren mit Weihwasser
besprühten Computer, und über die neuen
Wunder von Agios Raphael zu berichten.
KurzBiographie
Seit die Äbtissin
die Kunde vom
heilenden Raphael
verbreitet, reisen
Wundergläubige
aus aller Welt an.
Die Biographie der Evgenia Kleidara ist
ein Gemisch aus Fakten und Legenden.
Geboren wurde sie wohl 1931 als Irini
Kleidara in Plomari, einem Dorf an der
Südküste von Lesbos (Mytilini). Sie studierte
in Athen Philologie und Theologie.
Als Äbtissin steht sie seit 1962 dem
Kloster Agios Raphael vor. Die Erfolgsautorin
Kleidara hat inzwischen mehr
als 150 Bücher veröffentlicht, darunter
Gedichte, religiöse Werke und Erzählungen
mit Titeln wie „Valentina findet
Gott in einem Buch“ oder „Liebe, die
größte Macht auf Erden“. Die Liste der
Ehrungen, die ihr zuteil wurden, ist
sechs Seiten lang, darunter sind so skurrile
Titel wie „Frau des Jahres 1994“
des American Biographical Institute.
Frankfurter Rundschau - 2006
© Hans W. Korfmann
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