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Müller beherrscht das Mittelfeld

Müller hat seine Gewohnheiten, sonst hat er nicht viel. Aber Müller hat eine große Liebe: Bayern München.

Die Philosophie des Klaus Dieter Müller ist einfach. Für ihn teilt sich die Welt in zwei Hälften: Bayernfans und Nicht-Bayernfans. Und damit andere sehen, wie leicht das Leben ist, trägt er auch im Winter ein freundliches Lächeln und im Sommer das schwere Gewand des Bayernkostüms mit den Wimpeln des Schlachtenbummlers und mit dem bunten Zylinder. Wenn er die Straßen Kreuzbergs überquert, grölen ihm Dortmunder, Kaiserslauterer oder die von Galatasaray ihre Parolen hinterher. Und Müller grölt zurück: "Ihr seid schwarz, und ihr seid gelb, ihr seid die dümmsten Fans der Welt..."
Er ist ein echter Bayer, sein Mitgliedsausweis kostet jährlich hundert Mark und trägt die Nummer 43 550. Damit liegt er im Mittelfeld, denn die Bayern haben über 70 000 Mitglieder. Müller gehört dazu und ist stolz darauf. Auch wenn er abends alleine und nicht mit der Mannschaft seine Runden dreht, zwanzig Zeitungen unter dem Arm, die er für zwei Mark das Stück verkauft: Er gehört zu der großen Bayernfamilie. Bei jedem Nummernschild, das mit einem "M" beginnt, freut er sich wie ein sibirischer Urlauber, der in der Sahara auf einen Landsmann trifft.
Ein Bayer, mit Tugenden, die man im In- und Ausland als deutsch bezeichnet: Pflichtbewusstsein, Pünktlichkeit, Ordnung. Er ist ein Mensch, der jeden Arbeitgeber glücklich machen würde. Morgens um sechs klingelt in der Parterrewohnung sein Wecker. Dann schaut er Frühstücksfernsehen, bis um halb acht. Anschließend geht er zum Nollendorfplatz, um sich zwanzig Exemplare der Motz zu holen, zu fünfzig Pfennig das Stück. Jeden Morgen, pünktlich als einer der ersten, steht er am Vertriebsbus der Obdachlosenzeitung. "Ich nehm immer nur zwanzig, mehr brauch ich nicht. Das reicht mir. Außerdem wird mir das sonst zu schwer."
Um zehn Uhr ist er wieder in Kreuzberg, denkt ans Mittagessen, macht es sich gemütlich und hält ein Mittagsschläfchen. Pünktlich um halb acht beginnt er abends mit der "kleinen Runde" im Deininger, seinem Stammlokal. Donnerstags, wenn es Leckerli gibt für zwölf Mark, geht er etwas früher und freut sich über die Wildschweinkeule. Bier trinkt er nicht im Dienst, meistens Cola. Die bekommt er hier spendiert. Jeden Tag. Bier trinkt er nur selten - eigentlich nur, wenn die Bayern spielen.
Die "kleine Runde" dauert etwa eine Stunde. Die Route geht die Friesenstraße hinauf, die Arndtstraße entlang bis zum Chamissoplatz und über die Willibald-Alexis-Straße wieder zurück. Müller ist wählerisch. Beim Chamissoplatz entscheidet er sich für die Diagonale über den Spielplatz. Jeden Abend, knapp am Sandkasten vorbei. Da spart er drei Minuten. Müller geht nicht in jedes Lokal. Rausgeworfen hat man ihn noch nie, "aber man spürt ja, wenn man nicht so willkommen ist." Andere betritt er nur, wenn Bayern gewonnen und Hertha verloren hat. Oder Dortmund. Und wenn der Wirt zu den Verlierern gehört. Die Griechen aber stehen jeden Abend auf dem Plan. Jorgos im "Z" und Kiriakos vom "Dimokritos" sind seine Freunde. Jedes Mal bieten sie ihm "diesen Ouzo" an. Jedes Mal lehnt er ab. Sie reden über Fußball, über Frauen, über Geld oder über Politik. Worüber man eben spricht unter Griechen und Bayern. Kürzlich drückte ihm Kiriakos eine Vase in die Hand. "Die ist antik!" Müller strahlt. "Hier kennen mich alle. Ich bin der Liebling Kreuzberg."
Die kleine Runde endet beim "Austria". Und nach der kleinen kommt die große. Nie anders herum. Auch die zwei Lokale, die nebeneinander liegen, verwechselt er nie. Immer zuerst in das rechte, dann in das linke. Aus einer gewissen Ordnungsliebe. Viele seiner Kollegen haben diese Vorliebe nicht. "Die können sich den Tag nicht richtig einteilen." Wenn er Glück hat, verkauft er schon auf der ersten Runde alle zwanzig Exemplare. Dann macht er Feierabend. In der ersten Woche sagt er noch: "Die neueste Ausgabe der Motz. Kostet zwei Mark." Ab Sonntag sagt er nur noch: "Die Motz, zwei Mark!" Manchmal dauert es bis elf am Abend, ehe er alle los geworden ist. Aber Müller ist geduldig. Er wartet auch an der Ampel, bis es grün wird. Alles hat seine Ordnung.
Und die Geschichte ihre großen Momente, auch für Müller. Im November 1989, da stand er am Brandenburger Tor und reichte dem Kanzler die Hand: "Danke Helmut", sagte er und Helmut antwortete, Müller weiß es noch ganz genau: "Bitte." Auch mit einem Bundespräsidenten hat er einmal gesprochen, "Wir haben uns freundlich unterhalten, ich weiß gar nicht mehr worüber, über dies und das. Ganz allgemein. Der Richard und ich." Auch Egon Krenz hat er getroffen. Und beschimpft. Ihm reichte Müller die Hand nicht. "Das war höchste Zeit, dass Du hinter Gitter musst", hat er zu ihm gesagt. Und auf Krenz' Frage: "Warum?", sagte Müller nur: "Weil ich einer von denen bin, die wegen Euch vierzehn Jahre im Knast waren - Du Arschloch!"
Das musste gesagt werden. Allein schon wegen der zwei Jahre, die er in Bautzen abgesessen hat, 1973 bis 1975, wegen Staatsverleumdung der DDR. "Das vergisst man nicht so leicht, sag ich Dir!" Ebensowenig wie die Abende mit der Familie in Reichenbach im Vogtland, als er samstags mit dem Vater vor dem Fernseher saß, abends um sechs, und die Sportschau sah. Die Westsportschau. Und als er die Liebe seines Lebens traf: Bayern München. Das war vor 27 Jahren. Damals begann es für Müller trotz des Facharbeiterabschlusses in der Textilbranche eng zu werden in der DDR. Als der Spinnerei die Baumwolle ausging und sich die Tage häuften, an denen man sich zu Hause die Zeit vertreiben musste. Da ließ er die Textilfirma hinter sich und ging zu den Schaustellern. Auf den Rummel.
Reiste mit der Achterbahn von der einen Grenze zur anderen. Verdiente nicht mehr 650 Mark, sondern das Doppelte, bei freier Kost und Logis im Wohnwagen. Später schlüpfte er in ein Affenkostüm, turnte auf dem Dach der Geisterbahn herum und erschreckte die Menschen an der Kasse mit einem Totenkopf, den er an einer Angel herunterließ. Selbst im Regen stand er da oben, klatschnass, ein begossener Affe, aber unter dem Fell war es trocken und warm. So findet er immer seine Nischen - auch heute noch.
Natürlich trank man beim fahrenden Volk. Und redete wild durcheinander in den Kneipen von Dresden, Chemnitz, Frankfurt/Oder. Und weil Müller kein Mensch ist, der sich verstellen kann, reichten ein paar Bier, und er sagte, was er dachte. Von der DDR und von Bayern München. Vierzehn Jahre lang ging er in den Gefängnissen ein und aus. Vierzehn Jahre. "Die besten Jahre eigentlich!", sagt er und schaut das erste Mal nicht so freundlich aus. Tja, und dann endete sie plötzlich, "diese ganze Geschichte mit der DDR". Er fuhr nach Berlin, holte sich das Begrüßungsgeld und kaufte sich ein Radio. Plötzlich wollte er wieder zurück ins Vogtland, sprach beim Bürgermeister vor, der ihm versicherte, eine Wohnung zu finden. Doch der war offensichtlich von der SED. Und kümmerte sich nicht um ehemalige Staatsfeinde. Eines Tages beugte sich Müller über den Schreibtisch, hat den Bonzen "an der Binde hochgezogen" und aus dem Bürgermeistersessel gehoben. Dabei ist "fast der Sessel umgefallen". Und das brachte ihm noch einmal sechs Monate Knast, im Dezember 1989, als es die DDR schon fast nicht mehr gab.
Jetzt hat er eine Wohnung, sieht Frühstücksfernsehen, raucht Pall Mall. Er ist zufrieden. Einigermaßen. Auch wenn er auf dem Friedhof arbeiten muss, für das Sozialamt und für drei Mark die Stunde. Klaus Dieter Müller hat sich eingerichtet. Arrangiert mit dem Westen. Einsam ist er nicht. Kreuzberg ist voller Bayern-Fans. "Und die meisten Menschen sind ja freundlich." Auf der Straße grüßt man ihn - wie einen Politiker. Natürlich gibt es auch solche, die ihn nicht ansehen, wenn er an den Tisch tritt, und nicht einmal den Kopf schütteln oder "Nein, danke" sagen, als existiere er überhaupt nicht. Oder die Touristen und die Bonner, die ihn immer noch anstarren, als wäre er die Attraktion der Geisterbahn. Aber das stört ihn nicht. Auch nicht das Tuscheln und Kichern der Mädchen hinter seinem Rücken. "Frauen", findet Müller, "sind sowieso Nebensache!"
Wenn man ihn fragt, wie die Geschäfte gehen, sagt er: "Könnte besser sein. Aber ich habe gehört, dass nächste Woche die Verkaufszahlen in die Höhe schnellen sollen." Das würde ihn nicht sonderlich beunruhigen. Er würde weiter seine Runden drehen wie bisher. Auch, wenn er Hunderte verkaufen könnte, er würde nie mehr als zwanzig Stück mitnehmen. Man braucht nicht viel zum Leben. Wenn man die Cola umsonst bekommt und bei Deininger eine extragroße Portion Wildschweinkeule. Er hat alles: Wohnung, Arbeit, einen Kiez, in dem er zu Hause ist. Manchmal verreist er sogar. Nach München. Wenn die Bayern spielen. Das hätte er sich nie träumen lassen, vor 27 Jahren.

Frankfurter Rundschau - 2000
© Hans W. Korfmann

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