Solo für Jeanette
Die Glückssträhne eines Models
aus Hettstedt im realsozialistischen Harz
Eigentlich wollte sie immer schon an die Westküste.
Seit sie dieses Lied von Pearl Jam hörte. Immer donnerstags,
wenn in Ballenstedt im Jugendclub Disko war. Wenn sie 30 Kilometer
durch den Wald fuhren, um ein bisschen was vom Paradies zu abzubekommen,
das irgendwo in der Ferne lag, und das von keinem Ort der Welt weiter
entfernt zu sein schien als von diesem Wald. Wenn sie 30 Kilometer
lang dicht gedrängt in einem alten Wartburg saßen, nur
um in der Disko "Nirvana", "Soundgarden" oder
eben "Pearl Jam" zu hören, während sich über
ihnen die Glitzerkugel drehte wie die Welt. Seitdem wollte sie an
die Westküste. Weil diese Musik von der Westküste kam.
Aschersleben war nicht ganz so weit wie der amerikanische
Küstenstreifen und nur halb so weit wie Ballenstedt. 13 Kilometer.
Und in Aschersleben gab es eine Zeitung, die kam aus Berlin. Da
musste sie lesen, daß Pearl Jam vor wenigen Tagen im Loft
gespielt hatte, in einem kleinen Schuppen für ein paar Mark.
Das hatte sie verpasst. Nirvana würde sie nicht verpassen,
das war erst im Sommer. Dann würde sie nach Berlin fahren,
sie hatte die Karten schon in der Tasche. Doch das Paradies blieb
aus. Nirvana spielte nicht mehr. Ausgerechnet jetzt musste sich
der Gittarist das Leben nehmen! Für Jeanette wurde immer klarer:
Hettstedt war es nicht, Ballenstedt war es nicht, Ascherding nicht,
vielleicht nicht einmal Berlin. Das einzige, was noch half, war
die Westküste.
Und die Chancen standen nicht schlecht. Jeanette war
jung, sie sah gut aus, verdiente ihr Geld nicht mehr als Kellnerin,
sondern als Model. Aber dann war es doch wieder nur Binz mit seinen
Strandkörben und dem schmalen Sandstreifen, die Ostküste
der DDR anstatt der Westcoast von Amerika. Immerhin, es war warm,
Jörg, ihr Freund, war zu Hause geblieben, die Freundinnen waren
lustig, und die Band vor dem Café spielte Jazz, amerikanischen
Jazz. Immerhin. Sie tranken ein bisschen, die Sonne schien, manchmal
sah die Ostsee aus wie der Pazifik, und die Band, die dem Ostseebad
auf die Beine helfen sollte, war gut drauf. Jeanette lachte, der
mit dem Saxophon lachte zurück, in der Pause hatte sie einen
Drink in der Hand, und nach dem Konzert stand Ben neben ihr und
fragte, wie der Drink schmecke und ob sie einen Freund hätte.
Jeanette lachte und "fand es gut, dass er so direkt war, und
dass er mich trotzdem nicht gleich stehen ließ, nur weil ich
einen Freund hatte".
Ben war Amerikaner. Der ließ nicht locker. "Der
wusste, was er wollte." Und außerdem war Ben am gleichen
Tag geboren wie sie. 19 Jahre vor ihr, aber am gleichen Tag. Und
Ben war Musiker. Und Ben kam von der Westküste. Aus einer Stadt,
deren Namen sie schon oft gehört hatte, und den sie trotzdem
nicht gleich verstand, weil er immer Frisco sagte. Und dann war
es San Francisco.
Aber eigentlich lebte Ben in Berlin. Das war praktisch.
So trafen sie sich wieder. Und so trafen sie sich auch an der Westküste,
als Jeanette im Februar 1998 das Flugzeug bestieg, um ihren Traum
zu verwirklichen. Als sie heimkehrte, stand Jörg mit einem
Blumenstrauß auf dem Flughafen. Umsonst. "Wir haben die
ganze Nacht geheult", erzählt Jeanette, lächelt und
legt den Kopf auf die Seite, als wäre es eine schöne Erinnerung.
"Aber das ging nicht mehr. Der saß immer vor dem Fernseher
und sah 'Gute Zeiten, schlechte Zeiten'. Jetzt war's eine schlechte
Zeit für ihn. Heute noch, hat Jeanette gehört. Und lächelt
ein bisschen.
Jeanette heiratete Ben noch im gleichen Sommer. Ben
ist ja einer, der weiß, was er will. Er brachte Jeanette zu
sich nach Hause. Sie wollte als Modell arbeiten, so wie in Berlin.
Aber Amerika war nicht Berlin. Amerika war "schrecklich prüde".
Es war unmöglich, sich nackt fotografieren zu lassen, ohne
gleich im Pornogeschäft zu landen. Es gibt in Amerika nur zwei
Sorten Frauen: Hausfrauen und Pornomodelle. So blieb ihr nichts
anderes übrig, als vor den Schülern der Kunsthochschule
für 17 Dollar die Stunde Modell zu stehen. Dafür konnte
sie ab und zu über die berühmte Hayghtstreet flanieren,
und einmal, "das war lustig", da verfing sich ein Vogel
in ihrem Haar. Und sie hatte geglaubt, jemand wolle sie grüßen,
Ben vielleicht, aber da war niemand, und da lachten die Passanten,
die ihr entgegenkamen. Das war wirklich lustig.
Sie blieben drei Jahre. Aber Berlin war spannender
als die Westküste. Da lernte man auch Menschen kennen. "Nicht
nur an der Oberfläche". Diesen Typen zum Beispiel, der
sie damals im Franz Club beim Tanzen beobachtet hatte und plötzlich
auf sie zukam und fragte, ob sie sich fotografieren lasse. Sie wusste
ja erst nicht so recht. Aber dann stand seine Freundin neben ihm
und lächelte. Oder dieser geheimnisvolle "Balto",
der jedes Mal extra aus München anreiste, und der sie gut bezahlte,
wenn sie mit ihm ins Theater, in die Clubs und Bars von Berlin ging,
um seine "Nudes in Public" zu fotografieren. Kürzlich
waren sie im Theater. "Ich war noch nie im Theater, und es
war lustig, wie die Leute reagierten. Ich hatte so ein durchsichtiges
Kleid an, nichts mehr darunter, gar nichts. Also, in Amerika wäre
das undenkbar gewesen." Die Berliner zeigten sich toleranter,
schielten, grinsten, grüßten. "Meistens sind die
Models, die so etwas machen, ja nicht so schön wie ich. Und
irgendwie ordinär." Sagt Jeanette und weiß, dass
sie recht hat. Aber natürlich hat auch Berlin seine "Banausen".
Diesen älteren Mann mit der Frau am Arm, der im Foyer entrüstet
stehenblieb und sagte: "Also, jetzt ziehen Sie doch ihre Frau
mal wieder an!" Oder die Frau mit der vielen Schminke, die
um die Ehre der Stadt besorgt war: "Das ist eine Schande für
Berlin."
Jeanette lacht viel, wenn sie erzählt. Sie lacht
gern. Das lernte man dort im Wald, aus dem sie kam. Auch wenn es
nichts zu lachen gab. Oder gerade deshalb. Aber jetzt hat sie allen
Grund zum Lachen. Sie hat es in glänzende Magazine geschafft,
die Bilder ihres Körpers werden in gut beleuchteten Ausstellungen
gezeigt, ihre Stammkunden sind Künstler und richtige Fotografen.
Die Zeiten, als ihr die Typen in Unterhosen die Tür öffneten,
und als sie nicht mehr wusste, wie sie da wieder rauskam, sind vorbei.
Heute melden sich Agenturen, kürzlich war sie in Portugal für
einen ehemaligen Penthousefotografen, auf Mallorca war sie auch,
und vielleicht klappt es irgendwann auch einmal mit Asien. Da würde
sie gerne hin. Schon wegen des Essens. An der Westküste war
sie ja nun.
"Aber ich bin auch nicht mehr die Allerjüngste
mit 28 Jahren!" Diesen Satz sagen alle Models einmal. Und die
Agenturen werden auch immer wählerischer. Sie "messen
jede Hüfte und jeden Po mit dem Maßband" aus und
trauen niemandem unter Einsfünfundsiebzig. Die großen
Mädchen sind Universalmodelle, überall einsetzbar, überallhin
vermittelbar, passend für Mode, Akt, Film und Laufsteg. Jeanette
fehlen immer ein paar Zentimeter. Aber sie lacht darüber. Warum
sollte sie jetzt auch klagen, mit der hübschen Wohnung am Kreuzberg,
Blick auf den Fernsehturm und die halbe Stadt, dieses helle Nest
im 4. Stock! Mit Ben, dem Musiker von der Westküste. Und den
Künstlern hier überall in Kreuzberg. Und mit den vielen
Gemüsehändlern!
Die Gemüsehändler. Die Händler der
Wendezeiten. Sie haben eines Tages Jeanettes Leben verändert.
Ohne sie wäre Jeanette vielleicht ein anderer Mensch. Hätte
eine Figur wie so viele in Hettstedt, viele dort im Harz. Hettstedt,
irgendwo zwischen Eisleben und Aschersleben. Eisleben, weil der
Winter dort in den Tälern so lange hängen bleibt, und
Aschersleben, weil sie dort hinten in den Bergen einmal Holz zu
Kohle und Erz zu Eisen brannten. Seit der Wende aber bleibt nicht
einmal mehr Asche übrig. Seit der Wende sind viele aus den
Dörfern des Harzes ausgewandert. Gekommen ist kaum jemand.
Nur die Gemüsehändler. Und Jeanette, die
bis zum Jahr 1989 nichts so sehr liebte wie den Speckkuchen ihrer
Großmutter, die in der Schulpause Speckbrote mit Senf aß
- genau die gleichen Brote wie ihre Schulfreundin Christiane Gerbot,
die jetzt im Fernsehen die Nachrichten ansagt und es noch viel weiter
gebracht hat als sie -, diese Jeanette verliebte sich augenblicklich
unsterblich in Papayas, Kiwis und Mangos. Denn den Harz mit seinem
düsteren Gipfel, den sie schlicht und nüchtern Brocken
nennen, weil er sich 300 Tage im Jahr in Wolken und Nebel hüllt,
den Harz mit seinem großen Wald und den wenigen Straßen
und der schmalen Spur der Eisenbahn, den Harz mit seinen eigentümlichen
Holzfällernaturen und mürrischen Hüttenarbeitern...
- diesen Harz vergaß man im Sozialismus gern, wenn es darum
ging, die Menschen mit Obst und Gemüse zu versorgen. Deshalb
jubelte man dort besonders laut, als eines Tages die Mauer fiel,
und noch heute feiert man in einem winzigen Harzdorf mit dem Namen
Elend nicht den Tag der Einheit, sondern den 9. November, den Tag
des Mauerfalls.
Auch Hettstedt mit seinen 20000 Einwohnern und dem
Walzwerk, in dem die Hettstedter arbeiteten, erlebte seine kurze
Zeit des Aufschwungs. Jeanette war plötzlich nicht mehr die
einzige, die mit einem Auto von der Schule abgeholt wurde, das sich
der Vater ein halbes Leben lang zusammengespart hatte. "Die
Wende war das beste, was passieren konnte", sagt Jeanette.
"Niemand in Berlin kann sich vorstellen, was das für uns
dort am Ende der DDR bedeutet hat!"
Zwei Jahre später - Jeanette war längst
zur überzeugten Vegetarierin geworden, der Rausch der Glückseligkeit
war verflogen, die ersten Arbeitslosen standen auf der Straße
-, da entschloss man sich, etwas für Hettstedts Attraktivität
zu tun. So kam es im Sommer 1992 zur ersten Wahl der "Miss
Hettstedt". Jeanette witzelt darüber, aber es war ein
großer Tag, vielleicht der zweitwichtigste in ihrem Leben.
"Ich werde in die Hettstedter Chronik eingehen", lacht
sie. Wenn sie heute zu Besuch in die alte Heimat kommt, dann begrüßt
man die erste und wahrscheinlich einzige Miss Hettstedt aller Zeiten
mit einer Zeitschrift in der Hand. Sie haben sie wieder mal entdeckt.
Es entgeht ihnen nichts in Hettstedt, nicht in "Penthouse"
und nicht in "Coupé". Hettstedt sucht noch immer
den Anschluss. Den Jeanette gefunden hat.
Natürlich, es hätte alles auch ganz anders
kommen können. Sie hatte schon ihre Lehre hinter sich. Als
Restaurantfachfrau oder anders gesagt: als Kellnerin. Nicht im Ratskeller
Schmargendorf, "das war das beste Haus am Platz", sondern
in einer der beiden Bierkneipen. Sie hätte weiter Bier austragen
können, die ganze Nacht, weil die Leute viel Bier trinken in
Hettstedt. Sie hätte auch weiter Speckbrot essen können.
Weiter Pearl Jam in der Disko hören. Und sie hätte bei
ihrem alten Freund bleiben können und weiter "Gute Zeiten,
schlechte Zeiten" gucken können. Ein Leben lang. "Gute
Zeiten, schlechte Zeiten." Wie so viele in Hettstedt. Aber
sie hat es eben nicht getan. Sie hat sich irgendwann für bessere
Zeiten entschieden.
Frankfurter Rundschau - 2001
© Hans W. Korfmann
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