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Kapitän Becker auf tiefer See

Seit 50 Jahren schippert Gerhard Becker über Binnengewässer. Seine Schiffe durchkreuzten ganz Deutschland, den Osten und den Westen. Und in den Geschichten des Schiff-Führers spielt die geteilte Stadt Berlin die Hauptrolle.

Von Hans Korfmann

Stürme, Schiffbrüche, ferne Inseln und Kontinente hat er keine gesehen. Er kam bis Rotterdam und Basel. An den Alpen und der Nordseeküste hört die Welt für Becker auf. Becker ist auch kein Kapitän, er ist Schiff-Führer. Er befährt das weitverzweigte Netz der Flüsse und Kanäle des Binnenlandes, die Weltmeere interessieren ihn nicht. Becker war nie auf hoher See.

Und trotzdem hat er das erlebt: Dass ein Mann nach fast 50 Jahren auf dem Wasser plötzlich einsam in der Nacht am Steuerrad stehen und in den Nebel stieren kann, auf dem Mittellandkanal und einer Strecke, die er schon hundert mal gefahren ist, und nicht mehr weiß, wo er ist. 74 Stunden hat er sein Schiff immer in die milchige Unendlichkeit hinein gesteuert, solange, bis er plötzlich eine Insel im Strom sah, wo nie eine Insel gewesen war. Bis er schon die heimatlichen Hütten und Apfelbäume der Laubenpieper sah, die bis weit ins Land hinein die Wasseradern der großen Stadt säumen und den Schiffern die nahe Ankunft in Berlin ankündigen. Doch Becker war noch 100 Kilometer vom heimatlichen Berlin entfernt. Er rieb sich die Augen, trat von einem Bein aufs andere, aber die Lauben blieben, immer wieder tauchten ihre Dächer aus dem Nebel auf. Er war auch nicht rechts abgebogen, wie er es dem zweiten Mann an Bord berichtete, der irgendwann in der Nacht zu Becker ins Führerhäuschen kam. "Du kannst hier nirgends abgebogen sein. Hier geht es seit 100 Kilometern immer nur geradeaus", sagte er zu Becker. Aber der Schiff-Führer beschwörte, rechts in einen unbekannten Kanal eingebogen zu sein, und dass sie in vollkommen fremdes Gewässer geraten waren. Erst eine Stunde später, als er bei Kilometer 74 die Brücke wiedererkannte, fand Becker in die vertraute Welt zurück.

Damit hatte er nicht mehr gerechnet. "Nach einem ganzen Leben auf dem Wasser! Ich bin ja quasi auf dem Schiff geboren. Schon mein Ururgroßvater war Binnenschiffer, der lag in Danzig im Hafen. Ich meine, wir Schiffer hier haben ja alle ein bisschen was erlebt, in Berlin, mit der Mauer, nach dem Krieg... - aber so was!"

Nach dem Krieg war Gerhard Becker sechs Jahre alt, und einige Ausläufer des Wannsees waren noch 25 Meter tief. Sein Vater, der auf dem Wannsee und im amerikanischen Sektor sein Hausboot liegen hatte, besaß damals einen kleinen Frachter mit Schute. "Den haben die Amerikaner gleich beschlagnahmt. Und Vadder haben sie verpflichtet, zusammen mit ein paar Strafgefangenen die Munition aus den Nazilagern im Grunewald abzutransportieren. Zwei Jahre lang hat er täglich drei Schuten - bestimmt 120 Tonnen! - in den Wannsee gekippt. Tagtäglich, ob Sonn- oder Feiertag, 120 Tonnen! Sprengstoff, Säbel, Degen, Pistolen, Gewehre, alles noch eingepackt in Ölpapier und Kartons. Und zum Schluss haben sie den Kriegsschutt drübergeschüttet." Dreimal ist die Ladung explodiert, dreimal das Schiff gesunken, "dreimal rettete sich Vadder ins Wasser. Und jedesmal haben die Amerikaner die Schute am nächsten Morgen wieder fahrtüchtig gehabt." Ein paar Jahre später suchten die Deutschen dann nach dem Mann, der wusste, wo genau der Schatz vom Wannsee lag. "Aber der Vadder wollte etwas haben für die Auskunft. Und die wollten nichts geben. Also liegt das Zeug heut noch da. Ich kenn die Stelle. Aber das bleibt jetzt unser Geheimnis."

Auch nach der "Arcona" suchten die Deutschen verzweifelt. Zum 50jährigen Jubiliäum des Blockadebruchs wollte man das erste Schiff, das mit Carepaketen, Heringsfässern und Mehl beladen die ausgehungerte Stadt Berlin angelaufen war, neben dem Rosinenbomber zur Schau stellen. Die Bonner Abgesandten suchten in ganz Deutschland, aber im Kolk, nur ein paar Steinwürfe vom Westhafen entfernt, in diesem stillen Hafenbecken, das sich hinter Bäumen und Sträuchern versteckt, suchten sie nicht. Dort hatte der alte Becker 1947 einen kleinen Schuppen und ein paar Meter Land gepachtet, für 99 Jahre. Geschlafen haben sie nie an diesem Land, immer auf den Schiffen, und der Schuppen blieb immer ein Geräteschuppen. Aber davor sammelten sich allmählich die Schiffe der Reederei Becker an. Zehn sind es heute, teils abgetakelt, teils fahrtüchtig, schaukeln sie auf den kleinen Wellen des Binnengewässers. Und irgendwo zwischen den alten Schiffsgerippen liegt sie noch immer, die "Arcona", an ihrer rostigen Ankerkette, mit der letzten noch stehenden Holzwand des Ruderhäuschens und ihren zwei kleinen Fensterscheiben, durch die der amerikanische Schiff-Führer eines Tages das jubelnde Berliner Volk erblickte.

Becker ist kein vollbärtiger Kapitän, sondern nur ein schnauzbärtiger Schiff-Führer. Aber auch er hat seine kleinen Geheimnisse und seine großen Geschichten von der Welt. Auch wenn durch alle dieser Riss der geteilten Stadt geht. Becker ist kein großer Erzähler, aber jetzt, da die Haare langsam weiß werden, jetzt erzählt er manchmal. Zum Beispiel im Sommer, wenn er mit Touristen auf seinem kleinen Fahrgastschiff die alten Routen abfährt, zur Pfaueninsel mit den Scharen von Reihern, die sich dort niedergelassen und die Bäume so kahl gefressen haben, dass die Insel im Wannsee aussieht wie eine afrikanischen Savanne. Oder nach Heiligensee hinaus, durch den Tegler Forst und nach Saatwinkel, wo die Ausflugslokale der 20er Jahre noch stehen. Touren, mit denen sein Vater schon im Sommer 1950 wieder begonnen hatte, weil die Hamsterfahrten nach Tangermünde nicht mehr rentabel waren. Da hatte er die Berliner zu den Bauern gefahren, wo sie ihre Teppiche und ihr Silberbesteck gegen einen Zentner Kartoffeln und ein paar Stück Fleisch eintauschten, um am Ende die Hälfte des Proviants an die US-amerikanischen und russischen Grenzposten abzugeben. Geschichten.

Wenn Becker heute mit "son paar Peoples ausm Wessiland" in die Stadt reinfährt, zum Spreebogen, unter der Moltkebrücke an der Siegessäule durch, dann erzählt er manchmal auch von seinen kleinen Heldentaten. Als er damals, ein junger Mann mit druckfrischem Schiff-Führer-Patent in der Tasche, auf dem "Don Alfredo", einem Tanker, fuhr, auf dem 14 Schiff-Führer vor ihm gescheitert waren. Becker manövrierte das Schiff ohne zu zögern bis in die Berliner Mitte, durch die engen Spreebögen und die schmalsten Kanäle, und unter den niedrigsten der 1100 Brücken der Stadt hindurch. Sogar die Moltkebrücke im Spreebogen hatte er geschafft. Als er sagte, er würde auch die Moabiter Brücke schaffen, glaubte das keiner. Wetten wurden abgeschlossen, und Becker hatte ein flaues Gefühl im Magen. Er wusste, dass ihm rechts und links des 80 Meter langen Schiffes kein Handbreit Spielraum blieb, und dass die Spree an dieser Stelle nicht gerade war, sondern einen Bogen bildete. Nachdem der legendäre Becker auch das geschafft hatte, flog man ihn mit dem Flugzeug von Hamburg, Frankfurt oder Rotterdam ein, wenn in Berlin mal wieder so ein langer Pott vor einer dieser Brücken lag und weder vor und noch zurück kam. "Aber das mochte ich nicht. In diesen Flugzeugen fühle ich mich irgendwie nicht wohl."

Es war nicht die Weite des Ozeans, aber Becker und seine Schiffe kannten keine Grenzen. Sie durchkreuzten ganz Deutschland, den Osten und den Westen, man kannte die Vopos an den Grenzübergängen, unterhielt sich miteinander, Käpt'n Becker war ein Freundlicher. Doch Kontrolle war besser. Sie kamen noch jedes Mal an Bord, mit ihren Schäferhunden, die keine Ecke ausließen. Deshalb blieb Becker damals gar nichts anderes übrig, als sie unter der Brücke in Gatow durchfuhren. "Mensch, das hat doch eben geklappert!", sagte der Schiffsjunge. "Na los, hopp hopp, nachsehen, was los ist!", sagte Becker zu seiner Mannschaft. "Und die sind dann alle Kajüten durchgucken. Aber keiner hatte was gesehen, die hatten alle Schiss, nur der Junge kam mit 'nem Schuh in der Hand zurück. Also, sag ich, ich muss da runter, das lässt mir keene Ruhe. Und da war er dann, in der Kajüte vom Schiffsjungen, unters Bett war er gekrochen. Der war von der Eisenbahnbrücke aufs Schiff gesprungen."

Becker sagte, er müsse wieder von Bord, sofort. "Und der hat gebettelt, wie ein Kaiser. Und einen Packen Geld hat der bei sich gehabt, Westmark! Und Ostmark in rauen Mengen. Der kam mir vor wie ein Bankräuber. Hat mich angefleht, dass ich ihn mitnehme in den Westen. Aber ich sag: Mann, ich leb davon. Wenn die mich einmal erwischen, kann ich mein Schiff verkaufen. Und das kann ich nicht." Also sind sie an einer dunklen Stelle ganz nah ans Ufer herangefahren und haben ihn mit dem Schwenkbaum von Bord gehievt, der Käpt'n Becker und seine Mannschaft.

Aber einmal bekam er dann doch Streit mit den Vopos. Da hatte er drei Paddelboote geschenkt bekommen, und da Becker nichts, das schwimmt und irgendwie günstig zu erwerben ist, einem ungewissen Schicksal überlassen kann, ist er an einem sonnigen Sonntag mit seinem Bruder zum Tiergarten gefahren, um von dort, ein Boot im Schlepptau, die Faltboote in den heimischen Kolk zu überführen. Irgendwie waren ihm die Vopos auf der S-Bahnbrücke schon merkwürdig vorgekommen, wie sie ihnen so nachblickten. "Aber es hat ja keiner was gesagt", und Becker war in seinem Element, er war am Paddeln, er war Kapitän. Und natürlich hatte er, wie er das als Schiffer gewohnt war, den kürzeren Weg über die Spree und den alten Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal gewählt. Den Weg durch den Osten. Erst als die Vopos mit gezogenen Kalaschnikows von Achtern kamen, wurde ihm klar, dass er auf Abwegen war. Dass da gerade zwei Leute in Faltbooten auf die Grenze in den Westen zupaddelten.

"Da saßen wir dann, wurden ausgefragt und froren furchtbar in unsern Badehosen. Nach drei Stunden wurden wir mit dem Jeep zum Verhör zur Kripo gefahren und dann in so eine Kaserne - keiner wollte uns glauben, dass wir aus dem Westen kamen. Wir hatten ja nichts dabei außer den Badehosen, keine Papiere, nichts. 24 Stunden hat das gedauert, bis sie am Ende einen von uns rüberließen, damit der die Ausweise holt."

Ja, das sind so Geschichten, die man auf dem Wasser erlebt. Auf den Kanälen, an der Mauer. Einige aus dem Osten haben es geschafft. "Schiffer, meine ich." Die haben im Westen gelöscht und sind dann irgendwann im Kolk gelandet. Da war immer ein Platz. Irgendwann lagen dort 14 Schiffe, alle aus dem Osten. Einer von ihnen ist heute noch im Kolk. Diesem Wasserloch zwischen den Bäumen, in dem es sich die Familie Becker gemütlich gemacht hat. Für 99 Jahre.

Wenn Becker nicht unterwegs ist, dann turnt er über seine Schiffe, über die rostigen Drahtseile und die rotbraunen Ketten hinweg, zwischen Öl- und Benzinfässern hindurch, lackiert und wirft die alten Motoren mal wieder an, macht einen seiner alten Kähne wieder tiefseetüchtig. Kümmert sich um seine fünf schönsten Frachter, die er "Mars", "Jupiter", "Pluto", "Venus" und "Uranus" getauft hat, und die das ganze Becker'sche Wasserstraßensystem umkreist haben. Wenn er an Land ist, besteigt er seine 1100er Goldwing, die alte Honda im Harley-Design, und besorgt in der Stadt Ersatzteile für die Schiffe. "Oh, ich fahre schon gern mit dem Rad. Nur Fliegen ist nicht meine Welt." Und damit er nicht wieder Laubenpieper sieht, wo keine sind, schläft er auch manchmal auf dem alten Fährschiff mit den weißen Gardinen in den Fenstern. Die sind mit Palmen bestickt - und großen, weißen Schiffen im Hintergrund.

Frankfurter Rundschau - 9.11.2002
© Hans W. Korfmann

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