Hier spukt der Zeitgeist
Belgiens Adlige lebten einst in wunderbaren Schlössern an der Maas, gut betreut von ihrem Dienstpersonal. Heute können sich manche nicht mal mehr einen Gärtner leisten und haben ihre Besitztümer zur Besichtigung freigegeben.
Von Hans Korfmann
Als sich der mittelalterliche Pulverdampf der Kriege aus Wäldern und Tälern verzogen hatte und die Grenzen zwischen Belgien, Frankreich und den Niederlanden festgelegt waren, wurde es ruhig an der Maas. In den stattlichen Burgen entlang des Grenzflusses richtete sich die belgische Aristokratie ein. Auch aus der Festung von Freyr in der Provinz Namur, die man in grauer Vorzeit an einem Engpass der Maas gegenüber der steilaufragenden Felswand errichtet hat, ist ein Schloss geworden.
Nun liegt eine wunderbare Stille über der Hügellandschaft. Niemand ist zu sehen im Schlosspark von Freyr. Nur ein einsamer Gärtner ist damit beschäftigt, die 46 Blumenkästen der Orangenbäume weiß zu streichen, die im 18. Jahrhundert von Nancy nach Versailles und Freyr verschifft wurden. Akribisch, als restauriere er eines der alten Gemälde, setzt der Mann mit dem Strohhut Pinselstrich an Pinselstrich und lässt sich auch durch fünf nahende Besucher nicht aus der Ruhe bringen. Konzentriert auf seine Arbeit, wie einst Huckleberry Finn beim Streichen des Gartenzauns, schenkt er den Spaziergängern keine Beachtung. Erst, als sie ihn ansprechen, wendet sich der Mann mit dem farbbeklecksten Hemd über der kurzen Hose und den weißgesprenkelten Espandrillos den Eindringlingen zu. Nein, der Gärtner sei er eigentlich nicht, er sei sozusagen das Mädchen für alles, Gärtner, Sekretär, Maurer, Besitzer - man könne sich heutzutage keinen Gärtner mehr leisten.
Deshalb muss Baron von Bonaert seine Blumenkästen selber streichen. Drei Tage in der Woche widmet er sich dem Park mit seinen Alleen und Bassins, schneidet die zehn Kilometer lange Hecke des Irrgartens, kümmert sich um den Rasen oder seine Orangenbäume. Jedes Vierteljahrhundert brauchen sie neue Kästen und frische Erde, müssen eine Salpetersäurebehandlung gegen die Ameisen über sich ergehen lassen. Das allein kostet 2500 Euro pro Baum. Freyr ist eben keine Eigentumswohnung. Und deshalb arbeitet der Baron die restlichen drei Tage der Woche in Brüssel - als Informatiker.
Nur mit neugierigen Gästen möchte er nichts zu tun haben. Führungen durch die Vergangenheit überlässt er einer sachkundigen Frau. Sie arbeitet für Kost und Logis im noblen Anwesen, aus Liebe zum Schloss und dem Hauch von Aristokratie, der sie hier umgibt. Wenn sie Touristen durch die ehrwürdigen Räume führt, spricht sie davon, wie "wir diese Bilder von Maria Theresia und Kaiser Franz erhalten haben", als wäre es gestern und in ihrem Beisein geschehen, und wenn sie die Spuren des gefräßigen Hochwassers im Salon zeigt, zittert ihre Stimme vor Erregung. Sie reiht die Namen unzähliger Adliger aneinander, als blättere sie in ihrem Familienalbum, und macht ein besorgtes Gesicht, wenn man auf die Besucherzahlen zu sprechen kommt: "Wir bräuchten doppelt so viele, um den Erhalt unseres Schlosses zu finanzieren." Deshalb kam man auf die Idee, einige Räume des Anwesens tageweise zu vermieten: zu festlichen Anlässen und einem festlichen Preis von 12 000 Euro.
Auf die Idee kam auch Graf Hadelin de Liedekerke-Beaufort, der nicht weit entfernt über einem Nebenfluss der Maas eine fünftürmige Burg aus dem achten Jahrhundert, mit spitzen Hüten und winzigen Fenstern, erbte. Während er sich an den Wochenenden in seine Gemächer im dritten Stock zurückzieht, ist der Rest der Burg von Vêves zum Museum geworden. Im Souvenirladen am Ausgang gibt es für die Liebhaber der Ritter und ihrer Jungfrauen Säbel und Degen aus edlem Stahl für 70 Euro, und der gewaltige Kamin im alten Waffensaal mit den unendlichen Ahnengalerien an Decken und Wänden ist noch warm. Denn auch hier, zwischen den Abbildungen all der Uniformen, die das Adelsgeschlecht seit dem elften Jahrhundert hat anlegen müssen, um den vaterländischen Boden zu verteidigen, kann einen Abend lang gespeist und getrunken werden. Neben den Ölgemälden in den stilecht eingerichteten Zimmern aus vergangenen Zeiten stehen zuweilen die Farbfotografien von Gästen der Gegenwart, die in Heißluftballons oder Hubschraubern im gräflichen Garten niederschweben, sowie von Rittermaskeraden fröhlicher Tischgesellschaften im mittelalterlichen Mietsaal.
Auch maasabwärts, im prunkvollen Schloss von Modave, und schon in der Provinz Lüttich, trifft der gebetene Gast in den alten Gemäuern nicht nur auf den Geist Verstorbener. Auch hier spukt der Zeitgeist. Wo einst Türme und Zinnen Fremde abschreckten, zieht es heute die Eindringlinge aus aller Welt hin. Ungehindert durchschritten im vergangenen Jahr gleich 27 japanische Paare den "Saal der Wachen" mit einer ganzen Legion gewaltiger Büsten, um sich in dem Prachtbau mit 80 Zimmern trauen zu lassen und im Glanz vergangener Zeiten zu tafeln.
Das Schlafzimmer des einstigen Grafen de Marchin allerdings mit dem schweren Lüster, dessen Kette durch sämtliche Etagen läuft und auf dem Dach verankert werden musste, da man fürchtete, die Decken würden sein Gewicht nicht halten, wird den Hochzeitsreisenden bis heute vorenthalten. Das Himmelbett ist seit 1817 außer Dienst, und die vielen Teller auf dem Tisch im Speisesaal werden wohl nie wieder herzöglichem Wild als letzte Ruhestatt dienen. Der Salon mit den Gobelins, der Salon des Herkules, der Gemäldesalon mit dem Blick auf das Tal sind nur noch unbelebte Durchgangszimmer für kleine Besuchergruppen. Auch wenn unsichtbar in einem der vielen Nebengebäude das kräftige Herz eines englischen Unternehmens schlägt. Denn seit der Großindustrielle William Cockerill 1817 Modave kaufte, dient das Anwesen als Firmensitz.
Guy van den Steen war kein Industrieller. Er war Bildhauer. Und da jegliche Kunst meist brotlos ist und der Graf sein Erbe nicht ans Finanzamt verlieren wollte, verfiel der 72-Jährige auf eine List: Er bot der Provinz Lüttich das Schloss Jehay mit seinen Zwiebeltürmchen und seinem schachbrettartigen, schwarz-weißen Mauerwerk inmitten des karpfenbesiedelten Schlossgrabens als Geschenk an - auf Leibrentenbasis. Und wurde 93 Jahre alt.
Ein Spinner, sagt der kleine, dahineilende Schlossführer, der eine Busladung Neugieriger an den weiblichen Bronzestatuen des Grafen vorüberführen muss, die überall im Schlosspark verführerisch auf dem Rasen ausgebreitet liegen, mit angewinkelten Beinen auf den Mauern sitzen. "Vielleicht hatte der Mann sexuelle Probleme! Aber moderne Kunst ist eben schwer zu verstehen", sagt der kleine Mann. Erst recht die eines van den Steen.
Bis zur letzten Stunde diente ihm Jehay, nahe dem Dörfchen Amay und nicht weit von Lüttich, als Wohnsitz. Und während andere Schlossbesitzer sich in dritte Etagen, Seitenflügel und hinter Blumenkästen zurückziehen, um nicht ständig durch Museumsbesucher belästigt zu werden, residierte der Graf auf allen Etagen. "Er war überall", erzählt Madame Mado Laruelle, lächelt und zeichnet mit der Hand einen Kreis in die Luft, der Haus, Garten und die ganze hügelige Wiesenlandschaft mit der langen Allee zwischen den Wiesen voller Kühe ringsum einbezieht.
Er wohnte zwischen den Waffensammlungen, dem Tafelsilber in den Vitrinen, dem chinesischen und dem Meißener Porzellan, den Ritterrüstungen, dem Schrumpfkopf eines Amazonas-Indianers und den bronzenen Frauenskulpturen. Und er ließ es sich nicht nehmen, Besucher persönlich durchs Haus zu führen.
Er war eben ein Graf, dieser Guy van den Steen, er war Lebemann, Rennfahrer, Bergsteiger, Archäologe, Höhlenforscher, Künstler und Verehrer schöner Frauen. Den Park mit den fünf Meter hohen Buchenhecken und den zu überdimensionalen Pilzen beschnittenen Bäumen überließ er dem Gärtner, mit den Bürgern von Amay hatte er wenig zu tun. Nur deren Kinder fuhr er in seinem Rolls nach der Messe ins Dorf zurück - zehn von ihnen auf einmal. Darunter war auch ein kleines, blondes Mädchen namens Mado.
Später erinnerte er sich an sie, und Mado fand eine Anstellung bei ihm im Schloss, putzte die letzten 13 Jahre seines Lebens das Silber, kämpfte gegen den Staub, stand ihm bei Führungen zur Seite. Sie speiste mit dem Grafen, dem Gärtner und den beiden anderen Hausfrauen im "Kleinen Esszimmer" unter dem Lüster aus dem 18. und über dem Fußboden aus dem 16. Jahrhundert. Man lebte gut auf dem Schloss, schwamm im Pool, lachte und erzählte. Und als Mado ihren 30. Geburtstag feierte, bestellte der Graf in der Dorfschenke heimlich Champagner für sie. Der Feier selbst blieb er aber fern.
So war er. Madame Laruelle lächelt, wenn sie von dem Grafen spricht. Auch die Männer in Lüttich, die einst mit ihm den unglücklichen Tauschhandel eingingen, können jetzt lächeln. Das kostspielige Leben des Mannes mit seinem Rolls und den teuren Hobbys war nicht unendlich. Zwar gibt es 294 Schlösser in der Wallonie, und die meisten liegen an der Maas, die sich aus den Ardennen bis nach Flandern hinunterwindet. Aber Jehay könnte eines der berühmtesten werden. Nicht zuletzt wegen jenen mit so viel Besorgnis betrachteten Skulpturen. Verrückt genug, um den Grafen posthum zum genialen Künstler werden zu lassen, sind sie allemal.
Service: Belgische Schlösser
Anreise: Mit der Bahn über Aachen nach Lüttich, (franz. Liege). Für die Weiterreise empfiehlt sich ein Mietwagen, Busse fahren regelmäßig in die Provinzstädte Namur und Dinant. Mit eigenem Pkw über Aachen nach Lüttich. Von dort führt die N 90 entlang der Maas nach Amay und zum Schloss des Grafen van den Steen (Jehay). Weiter geht es über ein kleines Sträßchen (N 641) durch eine idyllische Hügellandschaft zum Schloss "Modave". Die N 636 führt ins sehenswerte Provinzstädtchen Dinant und ein weiteres Stück die Maas entlang zu Baron Bonaert und seinem Schloss Freyr. Bei Dinant fließt die Lesse in die Maas, folgt man ein Stück dem Nebenfluss, erreicht man die Burg Veves über dem winzigen Natursteindorf Celles (N 910).
Die Schlösser:
Jehay: Tel. 0032/85/311716. Öffnungszeiten: Von Juni bis August jeweils Sa. und So. von 11-18 Uhr, im Juli und August zusätzlich Di.-Fr. von 14-18 Uhr, Eintritt 5 Euro. Im Juli und August dieses Jahres finden jeweils sonntags um 16.30 Uhr Konzerte im Schlosspark statt.
Modave: Tel 0032/85/411369. Das gutbesuchte Schloss empfängt Gäste von April bis zum 17. November, täglich von 9-19 Uhr, Eintritt 5 Euro. Konzerte, Theaterveranstaltungen etc. bis in den Herbst, nähere Informationen auch unter www.Modave-castle.be.
Vêves: Tel 0032/82/666395. Geöffnet im Juli und August tägl. von 10-19 Uhr, im September und November an den Wochenenden von 10-13 sowie 14-18 Uhr. Eintritt 5 Euro, Führungen 5,70 Euro. Nähere Informationen unter www.chateau-de-veves.be, E-Mail: veves-noisy@skynet.be
Freyr: Tel. 0032/82/222200. Geöffnet von April bis September an Wochenenden, Führungen jeweils um 11, 14.30 und 16 Uhr. Im Juli und August zudem Dienstag bis Sonntag zu den gleichen Zeiten. Eintritt 6 Euro, Führungen 6 Euro. Näheres unter www.freyr.be.
Essen und Trinken: Die Wallonie liegt zu nahe an Frankreich, um nur mit einer mittelmäßigen Küche aufzuwarten. Zahlreiche Restaurants, oft kombiniert mit Hotels und Pensionen, liegen am Straßenrand zwischen den Hügeln, oft in alten, mondänen Backsteinbauten. Auch die Preise richten sich nach gehobenem französischem Standart. Empfehlenswert ist eine Kostprobe im ausgezeichneten Restaurant des Schlosses Modave. Gruppen haben die Möglichkeit, ab 9 Euro pro Person ein Menü zu bestellen, das von geschickten Köchen auf dem gewaltigen, museumswürdigen Ofen zubereitet wird. Besonders zu empfehlen ist der "96er Château la Cardonne/Médoc".
Nicht weniger nobel ist das Chateau d'Hassonville in der Nähe des Dörfchens Aye, 30 Kilometer östlich von Dinant, gelegen in einem sorgsam gepflegten Schlosspark. Das Menü beginnt bei 55 Euro, das Wochenendzimmer mit Blick auf den Park, Champagner und den abendlichen Menüs des Hauses kostet das glückliche Paar allerdings bis zu 590 Euro. Vorbestellung erforderlich unter Tel. 0032/84/311025.
Im Gasthof "La Table d'Ardenne" des Dörfchen Celles (bei der Burg Veves), bekannt auch durch seinen Ziegenkäse, stößt man auf die traditionelle Ardennenküche.
Unterkunft: Ein Hotelführer "Hôtels Wallonie 2002" ist kostenlos erhältlich bei Belgien Tourismus Brüssel-Wallonie-Ardennen, Tel. 0221/27759-0, Fax 27759-100, E-Mail info@ardennen-bruessel.de, Internet: www.ardennen-bruessel.de
Es gibt auch eine Auswahl besonders interessanter Bed&Breakfast-Adressen in Schlössern und historischen Gebäuden, erhältlich bei der Reservierungszentrale Belsud, Rue du Marché-aux-Herbes 61, B-1000 Brüssel, Tel. 0032/2/5040280, Fax 5145335, E-Mail: belsud@opt.be, Internet: www.belsud.be
Frankfurter Rundschau - 2002
© Hans W. Korfmann
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