Der Beo
Athen schläft nicht. In diesem Sommer sowieso nicht. Die Lichter gehen nicht aus, in den Kneipen nicht und an den Ampeln nicht.
Aber das Hupen wird etwas lauter, morgens um vier. Wenn der Tag beginnt. An der Kreuzung, ganz in der Nähe von Omonia. Wo Jorgos gerade die hölzernen Läden seines Periptero aufklappt, die dicken Pakete der Zeitungen hineinwuchtet, die wie Altpapier auf der Straße lagen, aufschnürt, nach politischer Gesinnung und den effektvollsten Überschriften sortiert und kunstvoll im Ständer drapiert. Die druckfrischen Zeitungen, darauf sind sie noch immer süchtig, die Griechen, da stehen sie noch immer in Trauben davor und lesen. „Als gäbs keinen Fernseher. sagt Jorgos, „Zwischen vier und acht verkaufe ich nur Zeitungen und Zigaretten! Dann erst kommen Eis, Limonaden, Feuerzeuge.....“
Ein Taxi hält neben dem Periptero. Der Fahrer hat die Statur von einer Rolle Keksen. Er steigt aus, schlendert zu Jorgos hinüber und legt die Arme auf den kleinen, hölzernen Balkon mit dem grauen Telefon. „Wie geht’s?“, fragt Jorgos und schiebt wortlos eine Rolle Papadopoulos, Schokoladenkekse, hinüber. Seit Jiannis, der Taxifahrer, vor zwanzig Jahren das Rauchen aufgegeben hat, verkauft Jorgos zwischen vier und acht auch eine Packung Kekse. Der Taxifahrer kramt ein Münze aus der ausgeleierten Hosentasche und sagt: „ Frag nicht! Frag bitte bloß nicht! Ein Chaos, die ganze Stadt! Vier Jahre lang Baustelle, und jetzt Stau, Straßensperren, Polizeikontrollen... - Ich weiß schon nicht mehr, wo die Akropolis steht. Zwanzig Euro habe ich gestern gemacht! Zwanzig Euro den ganzen Tag!“ Jorgos hängt den Vogelkäfig mit dem Beo auf. Er muss sich stecken, um an den Haken zu kommen, und schwankt ein wenig. Jorgos hat ein Holzbein. Vom Krieg. In den Periptera, diesen hölzernen Kiosken, die nach dem Krieg noch an jeder Straßenecke standen, waren lauter solche Holzbeine. Inzwischen sind viele gestorben. „Jeden Tag das Gleiche!“, schreit der Beo.
Zehn nach vier. Petros kommt. Petros ist so dünn wie eine Camel. Wortlos schiebt Jorgos ein Päckchen Camel rüber. Seit über dreißig Jahren jetzt. Jeden Morgen um zehn nach vier. „Und, wie läufts bei dir?“, fragt Jorgos den dünnen Wirt vom Kafenion. „Ach!“, sagt Petros, „Frag nicht! Eine Katastrophe. Kommen rein, immer in Gruppen, setzten sich mitten in den Eingang und wissen nicht, was sie trinken sollen. Ich sag: Limonade, Cola, Fanta, Sprite? - Nichts! Sie überlegen. 30 Euro hab ich gestern gemacht! Und die sitzen da und überlegen, was sie trinken sollen!“
Dann schlagen die Männer die Zeitungen auf. „Jeden Tag das Gleiche!“, pfeift der Beo. „Scheiß-Olympiade!“, brummt der dicke Jiannis. „Hoffentlich ists bald vorbei! In den Zeitungen jeden Tag das Gleiche!“, sagt Petros. „Wenn wir wenigstens siegen würden! Ein Sieg gegen die Amerikaner oder die Deutschen“, sagt Jorgos. „Ein Sieg, das wär was!“ - „Sieg! Sieg! Sieg!“, schreit der Beo.
Halb Fünf. „Tschüss!“, sagt Jiannis und geht in sein Kafenion. „Tschüss“, sagt Petros, und steigt in seinen Mercedes. „Und Tschühüüs!“ pfeift der Beo hinter ihnen her. Jeden Morgen, seit zwanzig oder dreißig Jahren.
Frankfurter Rundschau
© Hans W. Korfmann
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