Ein Ort des Widerstandes
Weit weg vom Meer, vom Rummel an den Stränden
Griechenlands, liegt Epirus. Unwirtliche Berglandschaften. Nahe
der albanischen Grenze. Vom Tourismus fast vergessen. Noch erfüllt
sich der Traum vom alpinen Idyll. Bis der Fortschritt kommt - und
mit ihm die Zerstörung des Schönen
Von Hans W. Korfmann
Epirus liegt am Rand der Reiserouten. Es passt nicht
in die glänzenden Werbebroschüren mit ihren weiß
getünchten Häuschen vor dem ultramarinen Meer. Es fehlen
die üblichen Zutaten zur griechischen Kulisse: keine Oliven,
kein Wein, das Meer ist weit im Nordosten von Igoumenitsa.
Stattdessen führt die Straße durch dichtes Gestrüpp,
neben ihr staubt eine Zementfabrik, verrostete Zäune und verbeultes
Wellblech über Schafställen sind die wenigen Zeugen menschlicher
Aktivität. Die Dörfer, klein und immer seltener, verbindet
eine Reihe wackeliger Telefonmasten, über die Hügel hinweg
bis zum Horizont. Steiler wird der Weg, der Bus stöhnt, die
Scheiben beschlagen, Fichten und Tannen wachsen. Dicht rücken
die immer spitzeren Gipfel zusammen, um eine fast weglose Gebirgswelt
entstehen zu lassen. Epirus. Eine Festung und ein Ort des Widerstandes
gegen kriegerische und ebenso gegen friedliche Invasionen.
Im griechischen Bürgerkrieg wurde er zur Heimat
der Partisanen, die sich nach dem Vorbild des griechischen Ché
Guevara, Aris Velouchiotis, in den Winkeln der Berge verschanzten.
Wenige Jahre zuvor, 1941, hatten die Italiener die albanische Grenze
überschritten und blieben in den Schluchten von Epirus stecken.
Tausende Freiwilliger waren in den Norden gezogen, ihr Vaterland
vor den Eindringlingen zu schützen. Sogar Odysseas Elitis,
1978 mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt, eilte an die
epirotische Front und tauschte die zarte Feder gegen das Gewehr.
Schwer verletzt kehrte er aus den Bergen zurück, was ihn nicht
daran hinderte, der Landschaft des Epirus einen hymnischen Gedichtband
zu widmen: »Die mönchischen Felsen mit kaltem Haar/ schneiden
schweigend das Brot der Ödnis entzwei.«
Auch der Dichterkollege Seferis war zeit seines Lebens
um die Heimat besorgt: In nächtlichen Albträumen sah er
die Verwandlung der Säulen der Akropolis in gigantische Zahnpastatuben
- Metapher der Unterminierung griechischer Kultur durch eine amerikanische
Zahnpastafirma. Die Vision war der Wirklichkeit nicht so fern: An
sonnigen Tagen gleicht das hellenische Staatssymbol einem überbevölkerten
Termitenhügel.
Auch Epirus - weit entfernt von der lauten Hauptstadt
- blieb vom Tourismus nicht verschont. 200 000 Besucher kommen jedes
Jahr. Doch neun von zehn sind Griechen. Sie haben genug vom Meer
und von den trockenen Inseln mit ihrem Trubel. Und sie haben eine
Landschaft entdeckt, wie sie schon ihre Großmütter mit
auf Wohnzimmerkissen gestickten Hirschen heraufbeschworen haben
oder mit jenen Fotografien und angegilbten Kalenderblättern
von Alpenseen und weißen Gipfeln an den Wänden, die dem
deutschen Touristen im Hotelzimmer mit Blick aufs Meer fehl am Platze
scheinen. Diese Bilder sind Metaphern einer Sehnsucht nach dem immergrünen
Reichtum ferner Alpenländer, in denen Milch und Geld fließen.
In einer unwirtlichen und einer der ärmsten Gegenden Griechenlands
haben sie dieses Land nun gefunden. Es heißt Zagori, und es
ist das Herz des Epirus, das bis hinauf an die albanische Grenze
schlägt. Zagori, das bedeutet »Hinter den Bergen«.
Braunbären leben im Walddickicht
Zwei Hauptschlagadern beleben die Felsen, die Flüsse
Aoos und Voidomatis. Dazwischen erstreckt sich das zweitgrößte
Naturschutzgebiet Griechenlands, recken sich die Gipfel der Timfi-Berge
2480 Meter dem Himmel entgegen. Braunbären leben im Dickicht
der Wälder, und über kahle Höhen streifen Grüppchen
der Wildziegen. Von den nahe gelegenen Dörfern führen
die Wege über die salatgrünen Hügel der Hochplateaus
oder über die alten, von waghalsigen Karawanenführern
in den Fels gehauenen Pfade an den Rand eines Abgrundes: die Vikos-Schlucht.
Im hoch aufragenden Spiegel der Felswände schrumpft der Betrachter
zur winzigen Kreatur. »O Gott!«, entfährt es einem
beim Blick in die Tiefe, und man tritt einen Schritt zurück,
»dabei verbringe ich die Hälfte meines Lebens in 25 000
Fuß Höhe!« - der Mann sitzt gewöhnlich im
Cockpit einer Boeing 747.
Seit wenigen Monaten verweisen stolze Tafeln am Rand
des Weges auf die alpine Sensation: Nicht tiefe Einschnitte des
Himalaya mit seinen weltüberragenden Spitzen und nicht der
Grand Canyon, sondern die kaum bekannte Vikos-Schlucht sei mit 900
Meter Tiefgang und 1000 Meter Breite als die tiefste der Welt ins
Guinness Buch eingegangen. Beim Anblick der Einsiedlerhöhlen
von Monodendri, die nur Heilige oder Lebensmüde in diese Felswand
geschlagen haben können, verstummen selbst die ständig
palavernden griechischen Wochenendausflügler, und es bekreuzigen
sich auch die Ungläubigen. Lediglich die Kinder schreiten,
ungeachtet der ständigen Warnungen aufgeregter Mütter,
furchtlos vorwärts, auf der Suche nach Gold, Edelsteinen oder
den Knochen der Eremiten, die noch irgendwo an diesem Ende der Welt
herumliegen müssen.
Doch nicht nur die Natur sucht der gebildete Athener
in der Abgeschiedenheit. In den Dörfern des Zagori stieß
er auf eine Kultur, um die sich bislang niemand kümmerte, weil
ihr das Stigma des Primitiven anhaftete. Für das ärmliche
Dasein eines Hirtenvolkes, das noch gestern mit qualmenden Öllämpchen
Licht in die Dunkelheit der Steinhäuser brachte, hatte der
moderne Grieche nur Spott übrig. Jetzt beginnt er, jene Mitbürger
zu bewundern, die bis vor wenigen Jahren 1000 in den Berg gehauene
Stufen hinaufsteigen mussten, um in ihr 1340 Meter über dem
Meeresspiegel liegendes Dorf zu gelangen. Inzwischen führt
ein eleganter Asphaltstreifen nach Vradeto.
Ehemaliges Zentrum des Zagori war das Dorf Kipi mit
der Polizeistation, dem Gericht und einem Arzt. Heute ist nur noch
das Museum von Bedeutung. Als Agapios Tolis sah, wie die Händler
auf ihren Eseln die unzerbrechlichen Plastikschüsseln ins Dorf
brachten und gegen alte Tonkrüge tauschten, wie die Frauen
ihre handgewebten Decken aus der Kammer holten, um eine Tischdecke
aus bunt bedrucktem Kunststoff zu erstehen, nahm er den Kampf auf
gegen die Vergänglichkeit. 20 Jahre später offenbarte
er einem Freund die geretteten Zeitzeugen. Man sprach von einem
Schatz. Jetzt hat der kleine Mann mit den buschigen Augenbrauen
sein Privatmuseum mit Eisenstäben vergittert, führt Gruppen
erstaunter Städter durch die Räume und deutet auf das
Gewehr des Großvaters und die eiserne Kaffeemühle.
Wenn Frauen unter den Besuchern sind, öffnet
er schmunzelnd eine hölzerne Truhe mit alten Stickereien und
freut sich jedes Mal aufs Neue über die hohen Töne der
Verzückung, als gälten sie ihm und nicht der weiblichen
Handarbeit.
Millionen von Drachmen hat der einsame Kämpfer
in die Rettungsaktion investiert, 40 000 Exponate angesammelt, von
der Lyra bis zum Telefunkenradio, vom Fingerhut bis zur Singer-Nähmaschine.
Auch im Kafenion Spuren der jüngsten Vergangenheit.
Auf der Herdplatte kocht das Wasser im Kessel, und das Ofenrohr
bahnt sich seinen Weg durchs Lokal, neben dem Tresen wartet ein
Stapel welker Telefonbücher, und vom Kalender an der Wand,
gleich neben dem eingerahmten Poster mit der Motorsäge, spendet
ein Heiliger ständigen Segen. Die Männer von Kipi nippen
am Kaffee und schweigen. »Hier ist man nicht so laut wie in
Athen. Das liegt am Klima! An der Gegend hier! Hier gibt's nichts
zu lachen«, sagt Tolis und lächelt nicht. So sitzen sie
stumm auf ihren Stühlen und blicken in die Ferne, selbst der
Hagel, der plötzlich aus dem Himmel fällt, entlockt ihnen
kein Wort. Erst als Blitz und Donner mit vereinten Kräften
und gleichzeitig auf das Dorf einschlagen, nicken sie und schieben
respektvoll die Unterlippe vor. »Schönes Wetter!«
Zimmer sind lange im Voraus ausgebucht
Das Zagori hat Charakter. Mit seinen hoch gebauten
Häusern aus unverputztem Stein, gut getarnten Horsten vor felsigem
Hintergrund. Mit seinen silbergrauen Dachschindeln, von der Natur
vor Jahrtausenden griffbereit zu jenen Türmen aufgestapelt,
die aussehen wie die Pagoden von Pagan im fernen Burma. Mit seinen
48 steinernen Dörfern, genannt Zogochoria, einst verbunden
durch 48 kamelbucklige, hoch aufragende Steinbrücken, die sich
aufsehenerregend über die Flüsse schwingen. Gebaut von
den geachteten Männern der Mastorochoria, der Dörfer der
Baumeister, die den Stein mit einem winterfesten Mörtel aus
Lehm und Eiweiß aneinander fügten, um die abgelegenen
Siedlungen mit dem Rest der Welt zu verbinden und um jene Karawanenstraße
zu schaffen, die einst über das heutige Bulgarien und bis vor
Wien führte. Im 17. Jahrhundert hatten die Dörfer im Fels
eine Zukunft.
Doch wenige haben das vergangene Jahrhundert unbeschadet
überstanden. Die Deutschen, verbittert über den Widerstand
des Bergvolkes, brannten sie nieder. Im anschließenden Bürgerkrieg
kämpften die Männer des Zagori auf der Seite der Partisanen,
die Frauen versorgten sie mit Munition und Proviant. Wenige Jahre
später zwang die Diktatur sie ins Exil - nach Amerika und Deutschland.
Armut machte sich breit, die Dörfer verfielen, die Jungen gingen
nach Athen, zurück blieben die Frauen in Schwarz.
Nun, 40 Jahre später, hat man begonnen, die Wege
neu zu pflastern. Nach alter Tradition, mit einem Fußsteig
und dem Eselspfad in der Mitte - auch wenn es kaum noch Esel gibt.
Man hat sich darangemacht, die Ruinen wiederaufzurichten. Die Arbeitskräfte
aus dem nahen Albanien sind dankbar für jede Drachme, die Ureinwohner
der Bergdörfer freuen sich, dass doch nicht alles vergeblich
war, und die Touristen sind glücklich angesichts des alpinen
Idylls. Die wenigen Zimmer, die man in den steinernen Burgen für
die Fremden eingerichtet hat, sind Monate im Voraus ausgebucht,
das Kafenion hat wieder geöffnet, und die jahrhundertealten
Wandmalereien in den feuchten Kirchen werden doch noch im letzten
Moment vor dem endgültigem Verblassen gerettet.
Keiner trauert der alten Zeit nach
Nicht überall begibt man sich behutsam auf den
neuen Weg. Zwar weiß man um die Fehler, die man im Süden
machte, doch die Verlockung des Reichtums ist groß: Breite
Straßen werden in den Berg gehauen, neue Brücken geschlagen,
ein großes Hotel soll in der Wildnis entstehen. Die Natur
im Naturschutzgebiet bleibt ungeschützt. Es gibt niemanden,
der das seltene Wild hüten oder die exklusive Pflanzenwelt
des Vikos-Aoos im Auge behalten könnte. Es fehle an Geld. Das
nämlich fließt in Werbung, Logistik, den Ausbau der Strukturen
und Verkehrsanbindungen. Primäres Ziel ist nicht der Erhalt
einer seltenen Landschaft, sondern der Ausbau jenes wirtschaftlich
wichtigsten Zweiges, der Griechenland in die erste Liga Europas
aufsteigen ließ: in die Europäische Union. Auch im Epirus
wird bereits jede dritte Mark verdient mit dem Dienstleistungsunternehmen
Tourismus.
Schon ragen erste Säulen neugriechischer Zementierkunst
aus der blütenübersäten Wiese bei Giftokambos, einer
Lichtung am Fuß der Timfi. Jahrhundertelang nutzte nur ein
Hirtenstamm die abgelegene Wiese als Sommerlager. Bis in die achtziger
Jahre durchzogen die Sarakatsanen Griechenland, Bulgarien und Mazedonien,
das Zagori gehörte zu ihren bevorzugten Weidegründen.
Euripides Makris ist einer der Letzten, die in jenen kegelförmigen
Strohhütten geboren wurden, die das Hirtenvolk an seinen angestammten
Weideplätzen errichtete. Und er ist einer der Ersten, die nicht
von mitwandernden Lehrern, sondern auf einem Gymnasium in Ioannina
jene merkwürdigen Zeichen lernten, die ein altes Rätsel
der Sarakatsanen so schön umschrieb: »Was ist da? Es
sind die Buchstaben auf einer Seite!«
Euripides Makris ist jetzt 63 Jahre alt. Er hat an
einer deutschen Schule unterrichtet, 14 Bücher geschrieben,
und er ist einer der ersten Rentner unter den Sarakatsanen. Er liebt
es, die Hände hinter dem Rücken zusammengefaltet, durch
die Straßen von Ioannina zu flanieren. Vorüber sind die
Zeiten, als sie noch den Schafen nachrennen mussten, zehn Tage lang
über die Berge zogen, bei Wind und Schnee, um ihre Herden auf
die Sommerweiden zu treiben. Jetzt sind auch die 8000 Sarakatsanen,
die im Epirus leben, endlich in die Steinhäuser gezogen. Die
Söhne und Töchter arbeiten beim Fernsehen, gestalten Internet-Seiten,
sitzen an Bankschaltern.
»Wir sind froh darüber, keiner trauert
der alten Zeit nach.« Im Zagori war die Zeit stehen geblieben.
Jetzt drehen sich die Zeiger der Uhr wieder. Und sie haben es eilig.
»Manchmal«, sagt der Alte, »wenn ich so spazieren
gehe, bleibe ich stehen und wundere mich, was alles passiert ist,
seit ich in dieser Strohhütte zur Welt kam. Es kommt mir vor,
als drängte sich in diesen letzten 50 Jahren des Zagori die
Geschichte von Jahrhunderten zusammen.«
Information
Anreise: Mit Zug, Pkw, Bus oder dem Schiff
über Italien nach Igomenitsa, von dort mehrmals täglich
eine Busverbindung nach Ioannina, zirka 2 Stunden (Tel. 0030-651/262
86). Olympic Airways fliegt für umgerechnet rund 100 Mark täglich
von Thessaloniki und Athen nach Ioannina.
Ausflüge in die umliegenden Dörfer
der Zagoria und den Vikos-Nationalpark sind von Ioannina sind mit
dem Bus möglich. Zahlreiche Wanderwege
Unterkunft: In Ioannina das Palladion,
idealer Ausgangspunkt für Exkursionen in die Berge der Zagochoria.
121 Zimmer, 7 Suiten, rechtzeitige Reservierung während der
Ostertage und Sommerferien empfohlen. Doppelzimmer von 90 Mark an,
Tel 0030-651/25 85 69, Fax 740 34, Internet: www.palladionhotel.gr
Unterkunft in Zimmern und Hotels der alten Dörfern
der Zagochoria. In der Nähe von Konitsa, am Ausgang der Schlucht
des Viodomatis, liegt sehr schön das Hotel Farangi, Tel. 0030-655/220
54. In Aristi das Zissis, Tel. 0030-653/411 47, in Monodendri die
Pension Vikos, Tel. 0030-653/612 32, in Papingas die Pension Dias,
Tel. 0030-653/412 57
Termine: Das Fest der Sarakatsani, am
ersten Wochenende im August im Dorf Gyftokambos, Grillen der Lämmer.
Das Fest der Walachen, Anfang Juni in Metsovo, Lieder in walachischer
Sprache, Gesang und Tanz bis in den Morgen
Auskunft: Tourismusbüro Ioannina,
Tel. 0030-651/250 86, Bergsteigerverband Eos, Tel. 0030-651/250
86. Griechische Zentrale für Fremdenverkehr, Neue Mainzer Straße
22, 60311 Frankfurt am Main, Tel. 069/236561-63, Fax 069/23 65 76
Für Kinder: gewaltiges Naturerlebnis
Die Zeit - 2001
© Hans W. Korfmann
zurück
|
|