Zwischen Literatur & Journalismus Die Menschen StadtReportagen Reisereportagen Kolumnen, Glossen & Buchbesprechungen Hans W. Korfmann

 

Kennst du den Witz vom jungen Mädchen?

Unter der Woche ist es auf der Insel Euböa totenstill. Am Wochenende aber kommen die Athener in Scharen, um Fisch zu essen. Die Einheimischen ertragen es mit der Ruhe von Menschen, die wissen, wie schön das Schweigen ist.

Von Hans Korfmann

Platana. Acht Uhr morgens. Ein Samstag. Aber es ist niemand da. Am kleinen Strand nicht, auf der Straße nicht, an der Bushaltestelle nicht. Nicht einmal im Kafenion. Menschenleer der Ort am Meer. Obwohl sie heute kommen müssten, die Athener Wochenendurlauber. Sie kommen immer, wenn die Sonne scheint. Doch Platana rührt sich nicht. Nur der Besitzer vom Periptero, dem bleichblauen griechischen Zeitungs- und Zigarettenhäuschen, kurbelt gerade die Markise runter.
    Sie werden schon kommen. Bis auf zwanzig Grad soll das Thermometer an diesem Tag klettern. Und schließlich ist es nicht weit nach Platana. Gerade einmal vierzig Meter trennen die Insel Euböa von Attika, zwei Brücken verbinden das Festland mit der zweitgrößten Insel Griechenlands, einer grünen Hügellandschaft im Meer. Die Athener haben viele Inseln vor ihrer Stadt, doch keine ist so schnell zu erreichen wie Euböa, gerade mal eine Stunde braucht der Bus zur Inselhauptstadt Chalkida. Die ausländischen Touristen dagegen haben Euböa noch immer nicht entdeckt. Vielleicht, weil Euböa - oder Evia, wie die Griechen sagen - so anders klingt als Naxos, Lesbos, Samos.

Neun Uhr, und noch immer ist keiner da in Platana. Lediglich im Kafenion sitzen zwei alte Männer vor ihren winzigen, dickwandigen Tassen türkischen Mokkas, der in Griechenland natürlich griechischer Mokka heißt. Sie erzählen sich Witze über junge Mädchen und alte Männer. Die beiden haben nichts zu tun an diesem Morgen, sie sind aus alter Gewohnheit aufgestanden. Einer Gewohnheit aus den Zeiten, als es noch Arbeit gab auf der Insel, als sich hinten am Hafen noch der vierstöckige Steinbau der Nudelfabrik in den Himmel schob. Thanassis hat noch gesehen, wie es gebrannt hat, und er wusste sofort, dass sich jetzt etwas ändern würde in ihrem Leben.

Zehn Uhr morgens. Bald müssten sie kommen, die Athener, um Fisch zu essen. Fisch, der berühmt ist in Athen. "Fisch aus Kimi", rufen die Athener Fischhändler. Aber was sie in der Hauptstadt kreischen und was sie verkaufen, ist oft zweierlei. Hier in Kimi ist es das nicht. Hier kommt des Griechen liebste Speise noch zappelnd aus den Booten. Aber das Zappeln hat seinen Preis, dreißig Euro kostet das Kilo Barben. Aber sie sind so groß und so rot und so glänzend wie selten sonst auf der Welt.

"Gott sei Dank", sagt Frau Tambakis und wirft einen kurzen Seitenblick steil nach oben, als schaue der Allmächtige gerade auf sie herunter und passe auf, was sie nun sage, "Gott sei Dank haben wir noch den Fisch!" Die zierliche Wirtin vom Hotel Pelagos ist eine fröhliche und wache Person, aber so nah am Meer mit seinen Stürmen und ertrunkenen Seemännern glaubt man eben doch an Gott. Und deshalb kann sie mit den Augen rollen, dass den Männern schon vom Hinschauen ganz schwindelig wird. Doch auch die sind gläubig. Sogar die Taxifahrer. "Ich hab hier einen Christen im Auto", sagen sie ins Handy, wenn sie einen Fremden an Bord haben, "der sucht noch ein Hotel. Ist was frei bei euch?"

Natürlich ist etwas frei. Um diese Jahreszeit ist immer etwas frei. Einen Moment lang sieht die Wirtin vom Pelagos aus, als müsse sie etwas Kompliziertes errechnen und mit hohen Zahlen jonglieren, aber dann nennt sie einen wahrhaft christlichen Preis. Viel zu christlich für einen so schönen Ort mit einem so blauen Meer und so netten Leuten. Immer weht ein lauer Wind vom Meer her oder aus dem Wald herunter. Selten auf den griechischen Inseln kommen sich Wald und Meer so nah wie hier.

"Aber ohne den Fisch wären wir arm dran", sagt die Wirtin. Ohne den Fisch gäbe es dieses Hotel hier nicht. "Sie glauben ja nicht, wie viele Boote da drüben im Hafen liegen, wenn die Schonzeit vorüber ist", sagt sie und wendet sich an einen dicken Athener, der gerade mit einer für ihn viel zu dünnen Frau angereist ist und lauter neugierige Fragen stellt. Die Wirtin verdreht die Augen bis zum Anschlag. Dem Athener schwindelt. Wahrscheinlich sieht er jetzt eine ganze Armada vor sich, Hunderte von Booten, die Tag und Nacht ausfahren, durch Regen und Sturm, nur um die Bäuche der Athener zu stopfen, aber dann endlich kullern die Augen der Wirtin wieder zurück, und sie sagt: "Zehn sind es bestimmt." Man ist bescheiden geworden, seit die Mehlfabrik abbrannte und das Kohlebergwerk geschlossen wurde. Bescheiden und sparsam. Die Arbeitslosenquote beträgt dreizehn Prozent. Damit liegt die Gegend in Griechenland fast an der Spitze der Negativskala.

Elf Uhr. Ein Stück weiter zu Fuß die schmale Häuserzeile zwischen dem blauen Meer und den steil und grün aufsteigenden Hügeln entlang. Dort, von wo aus man an Tagen wie diesen die Insel Skyros und noch ein bisschen weiter östlich das Dreigestirn der Inseln Skopelos, Skiathos und Alonissos sehen kann, dort liegt Kimi-Paralia, der Hafen des Bergstädtchens Kimi. Auch dort bewegt sich jetzt etwas. Da stehen auf den vier steinernen Molen, die weit ins Meer hinausgehen und die Boote vor dem stürmischen Südwestwind schützen, die Angler. Neben ihnen greift wie ein gigantisches Insekt ein Verladekran in das leere Hafenbecken. Längst hat das Salz den Zement aus den Fugen der Steinmauern geleckt, ein paar Jahre noch, dann wird es ein Loch in die Wehr gerissen haben, dann werden die Wellen wieder ungehindert hereinbrechen.

Vor hundert Jahren aber lagen hier die Schiffe in einer langen Reihe. Sie warteten auf Steinkohle. Mehr als die Hälfte dessen, was die stattliche Flotte griechischer Dampfschiffe, die Fabriken von Athen und Attika und die wenigen griechischen Lokomotiven brauchten, kam aus einem Ort in der Nähe von Kimi. Mit einer Seilbahn wurde die Kohle in den Hafen transportiert, zweitausend Arbeiter waren in der Blütezeit des Bergwerks mit dem glänzenden Gestein beschäftigt. Jetzt erinnert nur noch das Gerippe des alten Krans und der Name eines Dorfes in der Nähe an den Aufschwung von einst. Entsi heißt es, so wie jener deutsche Ingenieur, der 1834 den ersten Stollen in den Berg grub.

An der alten Mole von Kimi-Paralia ist es schon ein wenig warm geworden, und ein wagemutiger junger Mann mit einem Handtuch über der Schulter läuft auf die blauen Türen der vier Umkleidekabinen zu, die auf dem Kinderstrand mit seinem Sandfleck und den zwei großen Sonnenschirmen leise im Wind knarren. Nicht weit entfernt sind einige Männer schon lange bei der Arbeit. Seit dem frühen Morgen versuchen sie, ein Schiff ins Wasser zu ziehen. Sie arbeiten ganz ohne Technik noch wie vor Hunderten von Jahren, mit Hölzern, Bohlen und Hebeln, um die schwimmenden Tonnen zu bewegen. Eine Woche lang haben sie kalfatert und gestrichen, jetzt sieht ihr Schiff, die "Maria", wieder wie eine Jungfrau aus.

Früher gab es mehr Arbeit, sagt Christos Xansistavrou, die Zigarette immer im Mundwinkel, Symbol der Arbeiterklasse. Als kleiner Junge lernte er das Handwerk vom Großvater, die Schule war nicht so wichtig, "wir mussten was essen". Und ob das lateinische Alphabet, das irgendwann in Italien auftauchte, tatsächlich aus Kimi kam, wo man angeblich damit begann, das griechische Schriftzeichen P nicht mehr wie ein R auszusprechen, sondern eben wie ein P, und das X nicht wie ein Ch, sondern wie ein deutsches X, das interessierte ihn damals so wenig wie heute. "Zum Fluchen braucht man kein lateinisches Alphabet", sagt Christos, "und auf der Werft flucht man von morgens bis abends." Doch er macht sie gern, diese Arbeit. Er ist stolz auf diese Arbeit. Er ist der Letzte hier, der das noch kann, und er genießt Respekt bei den Männern im Ort. Sie brauchen ihn. Wegen des Fisches. Denn was sollte sonst werden aus den Menschen hier unten?

Paralia, zwölf Uhr. Noch immer ist es ruhig am Hafen. Auch die Fähre von Skyros, der kleinen Insel mit ihren weißen Häuschen, die um diese Jahreszeit nur noch einmal täglich den Hafen von Kimi anläuft, liegt träge im Wasser. Auf den Balkonen der Hotels hängen noch die vergessenen Handtücher vom vorigen Wochenende. Der Kanarienvogel, der immer in der Küche stehen muss, wenn die Gäste kommen, zwitschert noch fröhlich im Sonnenlicht vor dem "Room to let". Der alte Mann, der in Erwartung des Sommers schon einmal begonnen hat, die Fensterläden zu streichen, pfeift leise ein Lied vor sich hin. Als rechne er nicht mehr mit Kundschaft an diesem Wochenende. Dabei kommen sie eigentlich immer, die Athener. Sogar im tiefsten Winter. Nur wegen des Fisches.

"Aber wenn es regnet", sagt Nikos mit seinem wirklich kleinen Minimarket am Hafen, "wenn es an mehreren Wochenenden hintereinander regnet, dann wird es finster." Der Mann zwischen den Fischernetzen, Postkarten, Badelatschen und Keksen macht ein ernstes Gesicht. Mit roter Farbe hat er auf einen Karton geschrieben: "Zu verkaufen." Es ist ihm zu einsam hier. Auch wenn viele den ganzen Winter über bleiben und das Leben noch seinen alten Gang geht, auch wenn der Bäcker von Platana jeden Tag den Duft frischen Brotes und süßen Gebäckes in die kleinen Straßen von Platana entlässt. Vor fünfzig Jahren erst hat Evangelos Glykos die Bäckerei eröffnet und mit seinem süßen Gebäck die Herzen der Bewohner erobert. Das war er sich schuldig, schließlich heißt er Glykos, der Süße. Auch die drei Metzger kochen den ganzen Winter über ihre Würste mit den kleinen Stückchen von Orangenschalen und schlachten ihre Lämmer, und in den riesigen Hallen der Kaffeehäuser sitzen die Männer am Ofen und spielen Karten, monatelang, bis der Winter endlich vorüber ist.

Vierzehn Uhr. Paralia. Jetzt sind sie plötzlich da. Jetzt ist Leben am Hafen. Menschen sitzen an den Tischen, die langen Arme der Oktapoden baumeln von den Wäscheleinen, Kinder kreischen, Frauen lachen, Männer klopfen sich auf die Schultern. Überall in Platana riecht es nach gegrilltem Fisch. Der Kanarienvogel steht wieder in der Küche und schweigt, jetzt singen die Athener. Sie beginnen schon früh am Nachmittag und enden spät in der Nacht, begleitet vom jämmerlichen Klagen staubverklebter Bouzoukis, die von den dickfingrigen Händen eines unmusikalischen Wirts den lieben Athenern zuliebe noch einmal von der Wand geholt wurden. Sie essen und trinken und singen, und manchmal tanzen sie auch. Bis spät in der Nacht die Frauen der Athener ins Bett fallen und die Frauen von Platania und Paralia das Geld in der Kasse zählen, die Augen zum Himmel heben und freundlich nicken.

So vergehen der Samstag und der Sonntag. Am Montagmorgen ist der Spuk vorbei. Dann ist keiner mehr da. Dann nimmt das Leben wieder seinen alten, gewohnten Lauf. Morgens wird am Periptero mit seinen Zeitungen und Zigaretten die Markise heruntergeleiert, mal wegen der Sonne, mal wegen des Regens. Eine Frau ruft ins verstaubte Telefon des Zigarettenverkäufers, als müsse sie bis Athen rufen: "Ist das Mädchen endlich niedergekommen?"

Später, zu Mittag, bringt Frau Tambakis drei Männern aus der Nachbarschaft Bier und Fisch an den Tisch. Sie diskutieren über den neuen Hafen. Sie diskutieren schon seit Jahren darüber, gebaut wird er wohl nie. Regen klatscht an die Scheiben, und draußen, an den Strom- und den Telegrafenmasten, weichen die Plakate auf von den Sängerinnen und Sängern, die im Sommer durchs Dorf gekommen sind. Auch die Todesanzeigen und die Aufrufe zu politischen Versammlungen sind nass. Irgendwann wird der Wind die Zettel alle herunterreißen, dann stecken nur noch die Reißzwecken und die Heftklammern im Mast. Der ganze Stamm ist übersät mit ihnen, doch verändert hat sich nichts, trotz aller Versammlungen, aller Toten und aller Lieder.

Und oben am Berg, im Kafenion von Dimitris, sitzen an den alten Spieltischen mit ihren grünen Bezügen die Männer und machen das, was sie schon immer taten, wenn die Zeit zu lang wurde: Karten spielen. Zeitung lesen. Rauchen. Kaffeetrinken. Und Witze erzählen über junge Mädchen und alte Männer. Witze, die sie alle schon kennen.

Kasten

Fisch essen und abwarten: Im Winter auf Euböa

Übernachten: Quartiere sind günstig außerhalb der Hochsaison. Zu empfehlen ist das Hotel Pelagos in Platana. Zimmer und Apartments mit Blick aufs Meer kosten in der Nebensaison und unter der Woche von 30 Euro an (Telefon: 0030/2220/71270).

Essen: Die Küche auf Euböa ist außergewöhnlich gut und reichhaltig und hält auch für Griechenlandspezialisten einige Überraschungen bereit. Zu empfehlen ist das Restaurant Murnia (Maulbeerbaum) im Bergdorf Kimi mit seinen traditionellen, karierten Tischdecken, einer großen Speisekarte, bäuerlich üppigen Gerichten, frischem Gemüse und wunderbaren Kalbsschnitzeln. Das viel kleinere, aber noch traditionellere To Koutakitou Thanassi (Das Schächtelchen von Thanassis) mit gutem Wein und ausgesprochen häuslicher Atmosphäre ist in einem etwas zu groß geratenen Wohnzimmer im selben Ort untergebracht. Frischen Fisch gibt es in sämtlichen Restaurants von Platana. Besonders zu empfehlen ist das von Frau Tambakis im Hotel Pelagos. Denn - und das ist sogar in Platana beim Bestellen von frischem Fisch nicht ganz ohne Bedeutung - sie sagt immer die Wahrheit.

FAZ - 21.02.2008
© Hans W. Korfmann

zurück