Preußiche Uniform, kalifornische Badehose
Großbeeren feiert den Sieg gegen Napeleon und sucht einen Sieger auf dem Cable Wakeboard - von Hans W. Korfmann
Großbeeren ist ein unscheinbarer Ort im flachen Fläming mit einer Kirchturmspitze, zwei Supermärkten und einem bescheidenen "Industrieviertel" am Ende des Orts. Das Gras auf den ausgedienten Feldern steht mannshoch, wie Zeugen vergangener Kulturen ragen vertrocknete Obstbäume und die Wasserpumpen brachliegender Rieselfelder heraus. Es ist heiß im Fläming, unbeweglich stehen die Luft und die großen Windräder, Vögel flattern über den Weg. Ab und zu durchschneidet der Intercityexpreß die Landschaft und rast an Großbeeren vorbei. Nur der doppelstöckige Regionalzug hält manchmal auf dem zweigleisigen Bahnhof, knapp zehn Minuten von der Hauptstadt entfernt. Die Reisenden des Oberdecks blicken angesichts der Trostlosigkeit der Landschaft dankbar auf die Videoschirme. Da zeigt ein Werbespot den Fahrgästen die größte Attraktion der Gegend: die moderne Wasserski- und Wakeboardseilbahn von Großbeeren.
Das künstlich angelegte Wasseroval liegt gleich neben der alten Allee, die ins Dorf führte, als es die ineinander verschlungenen Kurven der Autobahnabfahrt noch nicht gab. An der Wasserlake warten Menschen mit bunten Brettern unter dem Arm am Lift. Der Lift kostet so viel wie in St. Moritz, obwohl er nirgends hinaufführt und die Sportler nur im Kreis durchs Wasser zieht. Doch an sonnigen Tagen, wenn die Bikinis der Mädchen so winzig sind wie in Rio und wenn sich braungebrannte Sportler auf ihrem Wasserbrett einarmig, einbeinig, vorwärts und rückwärts durch die braunen Wellen ziehen lassen, dann hat das Leben zwischen den Feldern und den Pappelalleen des Fläming ein bißchen etwas von Nizza. Und am 27. August kämpft man in Großbeeren sogar um die Europameisterschaft im Cable Wakeboard. Auch wenn das Meer weit weg ist.
Schon wenige Meter vom Lift entfernt ist der Wakeboarder wieder tief in Deutschland. In einer Stadt, deren niedrige Häuser sich die vier großen Straßen entlangziehen, die im Zentrum des Orts in vier Himmelsrichtungen auseinanderstreben. In Großbeeren hat die Welt noch ihre Ordnung, da liegt neben der Kirche die Schule, die gegenüber der Feuerwehr liegt, die neben dem Rathaus liegt. In dem es den Salon Ariane gibt und ein Fotoatelier, in dessen Auslage lauter Hochzeitsfotos hängen. Als gäbe es keine Ereignisse sonst. In dem es eine Eisdiele und die Parkplätze vor den Discountern gibt, auf denen sich sonntags die Jugendlichen mit ihren Mopeds treffen und überlegen, was sie unternehmen könnten. In dem es Kleingartenvereine gibt, Sportvereine und einen Anglerverein - kurz, es könnte ein Dorf sein wie jedes andere im Fläming auch. Wäre da nicht die "1813 königlich Preußische Landwehr e. V. - Kurmärkisches Landwehr Infanterie-Regiment, 4. Bataillon". Und die "6 pfündige Fußbatterie Nr. 16 der brandenburgischen Artilleriebrigade ,1813' (von Spreuth) e. V.".
Das macht den Unterschied zwischen Großbeeren und dem Rest der Welt. Denn auf den vertrockneten Rieselfeldern wurde einst die napoleonische Armee geschlagen. Da wurde Berlin gerettet. An einem 23. August. Und den feiert man jetzt im Dorf. Jedes Jahr. Unermüdlich. Nun schon seit 193 Jahren. Dann sind auf den trockenen Feldern mehr Menschen als an der künstlichen Wasserlake.
Damit die Menschen nach Großbeeren kommen, wird an den Festtagen einiges getan. Es gibt den Fackelumzug, das Turmblasen, das Chorsingen, die Kirmes und den Tanz im Festzelt, einen Feldgottesdienst und eine Kranzniederlegung, einen historischen Handwerkermarkt und vor allem die alljährliche "Nachstellung der historischen Gefechtshandlungen". Bereits 1817 stellte man zwischen den umgestürzten, moosüberzogenen Grabsteinen des Kirchhofes zur Erinnerung an die Schlacht den schwarzen Obelisken auf. Man baute zu Ehren des siegreichen Feldherrn die Bülow-Pyramide, und zum hundertsten Jubiläum der Schlacht errichteten die Großbeerener den Gedenkturm, der die Stadt jetzt weithin sichtbar überragt. Im Erdgeschoß richteten sie ein Museum ein, das an den Wochenenden preußische Uniformen, preußische Kopfbedeckungen, preußische Kanonenkugeln und ein Modell der legendenumwobenen Schlacht mit kleinen Zinnfiguren zeigt.
Die größte Anstrengung jedoch, die Erinnerung an die glorreichen Preußen nicht derart verblassen zu lassen wie deren Gebeine, unternahm Alfred Bujak, indem er das "Privatmuseum Preußische Traditionen" gründete. "Von der Zeitung sind sie schon gekommen, und das Fernsehen war da", erzählt der Museumsleiter, aber nicht alle haben seine Arbeit zu würdigen gewußt. Einen Hang zur Nostalgie habe man ihm vorgeworfen, obwohl ein Museum immer mit Erinnerung zu tun habe. Vielleicht hatte es die Journalisten irritiert, wenn er vertraulich die Hand auf ihren Arm legte und erzählte, daß er bereits Kontakt zur Ururenkelin des Generals von Bülow aufgenommen hat. Oder daß er zwei gutsitzende preußische Uniformen in seinem Schrank hat. Oder daß er einen Spielmannszug gegründet und mit historischen Uniformen ausgestattet hat und daß er an diesem 26. August zum ersten Mal in der Geschichte Großbeerens drei Bürger, die sich um den Ort verdient gemacht haben, mit dem "Ehrenkreuz von Bülow" in Gold, Silber und Bronze würdigen wird.
Sooft jedenfalls die Großbeerener auch beteuern, daß es ihnen nur um die Aufarbeitung der Geschichte geht, sowenig glaubt man ihnen. Wenn sie "auf den Spuren der Vorpostengefechte um Großbeeren" wandeln, wenn am Samstag die Kanonen donnern und die Akteure in historischen Uniformen auf dem Schlachtfeld aufmarschieren, dann reicht die Vergangenheit weit in die Gegenwart hinein. Bereits zwei Tage zuvor schlüpft Alfred Bujak in die Rolle des Generals, um vor seinem eigenen Hotel die historischen Truppen in Empfang zu nehmen. In diesem Jahr erstmals in seiner neuen Uniform als General von Bülow. Uwe Kober, Vorsitzender der "6 pfündigen Fußbatterie Nr. 16", stellt den General von Streuth dar und wird während der Kämpfe die "historischen Truppen befehligen" - wie Alfred Bujak es bezeichnet. Doch Uwe Kober mag eigentlich keinen Krieg, er mag nur diese alten Kanonen. Sieben hat der Schlosser davon in seinem Garten, akribisch nachgebaut, Dreipfünder, Sechspfünder, deren Projektile kilometerweit fliegen. Er ist mit ihnen schon auf allen großen Schlachtfeldern gewesen, selbst sein Waterloo hat Kober gesehen. "Krieg ist immer eine blutige Angelegenheit!", sagt er. "Ich mag diese Kriegsspielchen hier auf der Wiese nicht besonders."
Natürlich weiß auch der diplomierte Militärwissenschaftler Alfred Bujak, daß es an diesem 23. August 1813 besonders blutig zuging, da "das Pulver naß war und sich die Menschen mit den Gewehrkolben erschlagen haben". Ein blindes Idealisieren preußischer Tugendhaftigkeit liegt dem Exoberst nicht, der auf seinem kleinen Militärstützpunkt vor der Hauptstadt nicht nur Kameradschaften oder historische Truppen, sondern mitunter auch Delegationen internationaler Militärs oder Nato-Streitkräfte empfängt, um im Seminarraum Vorträge über preußische Traditionen oder den Sinn von Militärparaden zu halten. Auch bei diesen Gelegenheiten läßt es sich der Hotel- und Museumsleiter nicht nehmen, hin und wieder in eine seiner Uniformen zu schlüpfen, was bei den ausländischen Besuchern auch sehr gut ankomme. Alfred Bujak in Uniform ist eine eindrucksvolle Gestalt.
Schließlich hat der Ex-Oberst ein halbes Leben lang Uniform getragen. Der größte Raum im Privatmuseum ist auch nicht den Preußen, sondern der Nationalen Volksarmee vorbehalten, der Bujak einst diente. Um ein Stück vom alten Leben zu retten, ersteigerte er die berühmte schwarze Limousine, in der zu DDR-Zeiten die Minister den großen Militärparaden vorwegrollten. Eigentlich waren nicht die Preußen, sondern der schwarze Tschaika der Grundstein der Sammlung. Jetzt steht das prestigeträchtige Cabriolet also im Privatmuseum des "Dipl. rer. Mil. Alfred Bujak, Oberst a. D.". Auch die letzte Parade der NVA im Jahr 1989 hat Bujak akribisch nachgestellt. Mit 2385 Zinnfiguren. Er hatte schon immer eine Vorliebe für Zinnsoldaten, und seit einiger Zeit arbeitet er an einem Diorama mit fünftausend Figuren, das die Schlacht von Großbeeren endlich in gebührender Größe veranschaulichen soll. Daneben wird der Kasten im Gedenkturm wie ein Kinderspielzeug aussehen. Das große Diorama, für das er einen zusätzlichen Raum hergerichtet hat, soll bald fertig sein. Denn es nähert sich das zweihundertjährige Jubiläum der Schlacht. 2013 sei es soweit, sagt Bujak, "und dann wird hier aber was los sein"!
Deshalb schreiben die Großbeerener das Jahr 1813 schon jetzt groß auf ihre Wände. Die Restaurants nennen sich "Zum Kanonier", "General Bülow" oder "Schluchtenjodler". Sie haben Zinnsoldaten auf der Theke und servieren einen "Bülowsalat". Doch so richtig funktioniert das noch nicht mit dem Tourismus, trotz Wasserskilift, Reiterhöfen und Golfplatz. Selbst zum Siegesfest bleiben kaum Fremde in einem der vierhundert Betten, die in Großbeeren bereitstehen. Nach der Schlacht fahren die meisten wieder heim. Nicht einmal die Hobbysoldaten quartieren sich in den Fremdenzimmern ein, sie ziehen es vor, auf dem Feld zu biwakieren. Genau wie damals, an diesem 23. August 1813. Als ganz Berlin auf den Beinen war und nach Süden, nach Großbeeren blickte. Napoleons Truppen standen vor Berlin. Und sollte Berlin "Widerstand leisten", so hatte der Franzose gesagt, "dann lassen Sie die Stadt durch Wurfgeschosse in Brand stecken, und suchen Sie die Stadtmauer mit schweren Feldgeschützen in Bresche zu legen. Wir haben auf diese Weise Wien, Madrid und andere Hauptstädte zur Übergabe gezwungen..."
Die klaren Ansagen Napoleons beunruhigten die Berliner zutiefst. Zumal ihre Verteidigung lediglich auf drei provisorischen Schutzwällen basierte. Auch die Schutztruppen waren wenig vertrauenerweckend, da ein nicht unerheblicher Teil aus der "Landwehr" bestand, die erst im Mai einexerziert worden war. Napoleon witterte leichtes Spiel und ließ lediglich seine Zweite Mannschaft antreten. Als dann im Morgengrauen des 23. August die vielbelächelte preußische Kriegsmaschinerie durch die Stadt Richtung Süden rumpelte, standen die Berliner bangend am Straßenrand. Von einer jubelnden Fanmeile war damals keine Spur. Erst als am Nachmittag Gerüchte in die Stadt drangen, daß die Preußen sich tapfer schlugen, wagten sich trotz strömenden Regens die ersten Neugierigen auf eine Anhöhe vor der Stadt, von wo aus sie Rauch über dem Schlachtfeld von Großbeeren sehen konnten. Als aber am Abend die Nachricht vom Sieg die Menschen auf dem Kreuzberg erreichte, zogen die Massen los.
Sie kamen nach Großbeeren, um den Verwundeten zu helfen, um Erfrischungen zu bringen, um zu feiern. Aber sie kamen auch, um sich an den Gefallenen zu bereichern. Die Franzosen mit ihren dreihundert leeren Wagen, die sie zum Abtransport der Kriegsbeute mit sich führten, hätten es ebenso gemacht. "Und so kam es, daß am 24. August das Schlachtfeld angefüllt war mit Berlinern, die mitten unter den Toten ihre mitgebrachten Knackwürste verzehrten, die eigentlich für den an diesem Tag fälligen Stralauer Fischzug gedacht waren." Zwei Tage später führte ein Berliner Lehrer seine Schüler zum Schlachtfeld. Sie "fanden noch einige Todte, einige Pferde, wenige Waffen und Kugeln", schon damals begehrte Souvenirs und ein Trost für all jene, die beim Leichenfleddern leer ausgegangen waren.
In den folgenden Jahren entwickelte sich der 23. August zum Volksfest, pfiffige Berliner eröffneten eigens für diesen Tag Weinstuben im nun berühmtesten Vorort Berlins. Zum fünfzigjährigen Jubiläum spielten "Schlachtenmusiken", Feuerwerke wurden in den Himmel geschossen, der Zeppelin kam angeflogen, Karussells drehten sich, und die "Kreuzzeitung" sprach allein von sechstausend Aktiven, die in preußischen Uniformen am Siegesfest teilnahmen. "Alles eilt nach diesem Dorfe hinaus, um sich dankbar an jenen Tag zu erinnern", heißt es in einer Berliner Chronik. Es sah so aus, als hätte sich Großbeeren für immer seinen Platz in der Welt erkämpft. Doch irgendwann verblaßte Preußens Gloria. Immer weniger kamen. Dann fiel die Mauer, und Großbeeren geriet immer mehr ins Abseits. Zur Zweihundertjahrfeier könnte das Fest eine Renaissance erleben. "Vor drei Jahren waren es allein neunhundert Aktive, ohne die Zuschauer", sagt Kober alias Streuth. "Und dieses Jahr, wo ja am gleichen Wochenende die Wakeboard-Europameisterschaft stattfindet, werden es noch mehr sein", sagt der Hotelleiter Bujak. "Jaja, da kommen schon ein paar Leute zusammen", sagt der Wirt vom "General Bülow". Wie viele, das weiß er nicht so genau. Er geht ja selbst "nie hin, wenn geknallt wird. Da hab' ich mehr zu tun als sonst im ganzen Jahr."
"Wir bräuchten Souvenirs!", meint ein anderer Wirt. Schließlich kamen sie damals auch nur, um Erinnerungsstücke einzusammeln. Aber es gibt keine Souvenirs in Großbeeren. Keine Kanonenkugeln, keine Gewehre, keine Degen, keine französischen Orden. Keine Preußenkappen, keine Bülowuniformen. Keine Zinnbecher mit Abbildungen des Gemetzels. Nicht einmal einen kleinen Bülow als Zinnsoldat.
Frankfurter Allgemeine Zeitung - 2006
© Hans W. Korfmann
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