Held unter Helden
Kein Volk, dessen sind sich die Griechen einig, hat bedeutendere Helden
hervorgebracht als die Griechen. Schon ihre Götter waren dabei vorbildlich,
ebenso wie ihre langbärtigen Philosophen und Dichter, die den unsterblichen
Odysseus, den Prototyp jedes modernen Helden, schufen. Und: Es gibt sie noch,
die griechischen Heroen. Zum Beispiel in einem kleinen Menschennest an der
Nordwestküste Kretas.
Im Sommer 1981 fuhren eine Hand voll Männer aus Kastelli in das Dorf Neochori,
nahmen den lange Gesuchten, der bei seiner Schwester zu Besuch war, kurzerhand
gefangen und sperrten ihn in die leer stehende Metropolie. Sie holten die
Pistolen unter den Kopfkissen hervor, und der Bauunternehmer brach mit seinem
Bulldozer einige Felsen aus dem Berg, um vor dem Bischofssitz eine Straßensperre
zu errichten. 80 Männer aus Kastelli und den nahen Bergen waren bereit zum
Kampf. Sie wollten ihren geliebten Bischof nicht zum zweiten Mal verlieren.
Die Verantwortlichen der orthodoxen Kirche Griechenlands verzichteten dankend
auf die Auseinandersetzung und streckten die Waffen. Sollte das Volk doch
seinen Bischof wiederhaben.
Wenige Tage später versammelte sich auf dem kleinen Platz von Kastelli mit
seiner Telefonzelle, dem Restaurant, dem Gericht, dem Werkzeugladen, dem
Frisör und der winzigen Kirche, der halbe Westen Kretas und jubelte. Wieder
einmal hatte man es allen gezeigt. Dass man sich nichts wegnehmen lässt auf
dieser Insel: kein Land, keine Frauen - und auch keinen Bischof.
Wenn er heute in seiner goldbestickten Stola, das brillantenbesetzte Zepter
in der Hand, aus der Kirche tritt und die Glocken läuten, dann scheint es,
als läuteten sie nur für ihn: Irinäus, den Friedvollen, geboren in dem kleinen
Dorf Neochori im gebirgigen Selino, als eines von 13 Kindern. Vor 90 Jahren.
Fast schon ein Heiliger.
Doch man erzählt, dass dieser Heilige einst mit den Partisanen in den Bergen
gewesen sei und statt des christlichen Hirtenstabes ein Gewehr getragen habe.
"Nein, nein", wehrt der Friedvolle ab, "die Menschen hier erzählen natürlich
viel Unsinn. Ich war nie bei den Partisanen. Ich war auch nicht bei den Kommunisten.
Ich habe mich nur mit der Idee des Kommunismus beschäftigt. So wie ich mich
auch mit anderen Philosophien und Religionen beschäftigt habe."
Doch davon möchten die vielen Helden von Kastelli nichts wissen. Sie wissen nur, dass es nicht seine langjährigen Aufenthalte im Ausland waren, die die
Oberhäupter der griechisch orthodoxen Kirche 1971 dazu bewogen, Irinäus zum
Metropoliten und Exarchen von Europa zu wählen. Für sie steht fest, dass
die Junta den Geistlichen wegen seiner politischen Überzeugungen ins Exil
nach Deutschland schickte.
Natürlich war dieser Mann der Junta ein Dorn im Auge. Ein lebender Mythos.
Ein Mann, von dem sich das Volk erzählt, dass er nachts Mehlsäcke vor die
Türen der Armen stelle. Der sich in den Kopf gesetzt hatte, in diesem entlegenen Winkel der Insel, dem wilden Westen Kretas mit seinen verrückten Hirten,
Gymnasien zu bauen, Internate, Armenhäuser, Schulen für Taubstumme. "Und
sie wussten, ich habe das Volk auf meiner Seite. Vielleicht befürchteten
sie ja, ich könne eine Revolution auf Kreta anzetteln!" Der Bischof lächelt,
wenn er sich erinnert. Manchmal lacht er sogar.
1943 lachte er nicht. Das Militärgericht von Chania hatte dem jungen Theologen
vorgeworfen, statt einer christlichen Predigt eine aufständische Rede gehalten
zu haben. "Vielleicht erinnerte es manchmal an kommunistische Thesen! Aber
im Grunde ging es um Gerechtigkeit im christlichen Sinn. Doch der zuständige
deutsche Kommandeur sah das anders. Ich sollte noch am Abend gehängt werden.
Dann kam der Bischof von Chania, zusammen mit einem Arzt. Sie redeten auf
mich ein, alles zu widerrufen. Aber ich war zu jung und zu stolz, um nachzugeben."
Erst als am helllichten Tage plötzlich die Glocken läuteten, gab er nach.
Auch später bereitete das schwarze Schaf seiner Kirche Sorgen. Der Friedvolle
entpuppte sich als umtriebiger Geist, der dazu neigte, überall seine Nase
hineinzustecken. Ein Dasein in bescheidener Abgeschiedenheit ist das Leben
dieses Mannes nie gewesen. Als 1966 die marode Fähre eines berüchtigten griechischen
Reeders unterging und 300 Menschen mit sich in die blauen Wasser nahm, ließ
Irinäus das Predigen und schritt zur Tat. Der griechische Kapitalismus hatte
unchristliche Formen angenommen. Gemeinsam mit zwei weiteren Mitstreitern
gründete er die erste Volks-Aktiengesellschaft Griechenlands, ein Fährunternehmen
- ohne ein einziges Schiff zu besitzen. Dennoch "verkauften die Hirten ihre
Schafe, die Frauen webten Teppiche, irgendetwas hatte jeder. Es gab kaum
jemanden aus meiner Gemeinde, der nicht eine Aktie zu Hause hatte. So kamen
80 Millionen Drachmen zusammen."
Das reichte nicht. Aber Irinäus vertraute auf Gott, pilgerte los und legte
die Anzahlung und das Pfand seiner Aktiengesellschaft auf die verschiedensten
Schreibtische in ganz Europa. Schon wurde der Pope mit der überchristlichen
Geduld zum meistbelächelten Zopfträger Griechenlands - da endlich, in Schweden,
reichte ihm ein Reeder die Hand zum Geschäft und verkaufte ihm einen Tanker.
Die Kydon - benannt nach jener legendären, minoischen Stadt, die wohl für
immer einige Meter tief unter der unaufhörlich wachsenden Stadt Chania verborgen
bleiben wird - wurde zum größten Fährschiff des Mittelmeers und zum Grundstock
eines florierenden Unternehmens: Heute verkehren zehn Fähren der Anek-Lines
in der Ägäis. "Und der Großteil der Aktien, zirka 80 Prozent" - Irinäus erhebt
den christlich-moralischen Zeigefinger - "gehören noch immer dem Volk." Nicht
etwa der Kirche. Die hatte sich seinerzeit erheblich geziert, von Bruder
Irinäus weltliche Güter in Form von Aktien zu kaufen. So zumindest erzählen
es die Aktionäre.
So sorgte der Friedvolle stets für Unfrieden in den eigenen Reihen. Seine
volksnahe Kirchenpolitik passte den konservativen Vertretern der Glaubenslehre
wenig. Immer wieder musste der kleine Mann mit den großen Fähigkeiten vor
seine Herren treten. Doch Irinäus hat nie darüber geklagt, er hat stets in
christlicher Demut sein Haupt vor den Instanzen verneigt. Vorwürfen und Gerüchten
begegnet Seine Exzellenz mit einem friedvollen Lächeln. Und manchmal zeigt
sich im hintersten Mundwinkel eine Spur schlichter Verschmitztheit. Dann
erinnert der Mann mit dem heiligen Schein plötzlich an einen kleinen deutschen
Schauspieler, der, nach erhaltener Strafpredigt, die Klinke in der Hand und
sein neues Kirchenmodell unter dem Arm, dem Heiland am Kreuz kurz noch ein
Mal zuzwinkert und unbeirrt weiter seines Weges geht.
Irinäus, der Friedvolle, ist ein griechischer Pater Brown. Wie der Detektiv
in der Soutane, beweist auch Hochwürden weniger im fernen Himmel als auf
Erden Sachkunde und Geschicklichkeit. Zurückgekehrt aus dem Exil, verblüffte der Bischof die griechische Presse mit der staatsaktsähnlichen Begrüßung
von 38 holsteinischen Kühen auf dem Flughafen von Chania. Die flachen Weiden
im Norden der Insel waren geeigneter Boden für diese segensreichen Milchspender.
Ebenso gab der Bischof der Vereinigung des ostfriesischen Milchschafbocks
mit dem kretischen Bergschaf seinen christlichen Segen und scheute - zum
stirnrunzelnden Erstaunen einiger zopftragender Brüder - nicht davor zurück,
auf eine wenig biblische Fortpflanzungsmethode zurückzugreifen: die künstliche
Befruchtung. Der Rotkohl, und nicht zuletzt ein kleiner handlicher Olivenbaum,
so sagt man, seien die Früchte seines irdischen Wirkens.
Auch eine neue Kirche in Kastelli gehört zu seinen Werken. Dort, im kühlen
Keller, hat der weise Mann ein denkwürdiges Grabmal errichten lassen. Für
sich. Zu einem "überirdischen Preis", sagen die Leute von Kastelli und lächeln
dabei selbst ein bisschen wie der Bischof und wie dieser Pater Brown.
Außerdem ist er noch immer für sie da. Er empfängt jeden, der etwas braucht.
Auch mittags, wenn es heiß ist, wenn kein Vogel mehr fliegt, kein Auto mehr
fährt. Selbst das nahe gelegene Meer schweigt und liegt wie ein Spiegel in
der Bucht. Plötzlich tritt ein Mann aus der Küche der alten Bischofsresidenz,
das Messer noch in der Hand, mit dem er Kräuter klein geschnitten hat. Flüsternd
bittet er den Besucher, im Garten zu warten, der Bischof habe sich kurz niedergelegt.
"Wegen der Hitze. Möchten Sie eine Limonade?"
Vom einst herrschaftlichen Domizil des Bischofs bröckelt der Putz, rostiges
Werkzeug lehnt an der Wand, auf dem Fenstersims liegen ein ausrangierter
Wasserhahn und Griechenlands Universalreparaturmittel: ein Drahtknäuel. In der Ecke steht ein Ölfass zum Verbrennen des Mülls, im Maulbeerbaum hängen
zwei Zwiebelzöpfe, und im Garten wachsen Kürbisse, Tomaten und Bohnen.
Irinäus kommt raschen Schritts, legt eine Decke auf die steinerne Bank im
Schatten des Hauses und setzt sich. Dem Fremden bedeutet er, neben ihm Platz zu nehmen. Doch kaum sitzt der Gast, da steht der Bischof wieder auf, zieht
einen Stuhl heran und setzt sich gegenüber. Die beiden Männer wechseln erste
Worte, da erhebt sich der Friedvolle abermals, steht regungslos und schließt
die Augen. Dann endlich seufzt er: "Ah, von dort kommt der Wind!" Und wendet
Stuhl und Gesicht der kühlenden Abendbrise zu, die, kaum spürbar, von den
Hängen der Berge herabgleitet.
"Was wollen Sie denn noch schreiben, junger Mann?" fragt der Friedvolle
mit den dicken, weißen Augenbrauen und strahlt vollendete Bescheidenheit
aus. "Es ist doch schon alles über mich geschrieben worden?" - "Aber, Exzellenz",
entgegnet der Fremde und zwinkert ein bisschen, "Gottes Wort kann man doch
gar nicht oft genug wiederholen." - "Das stimmt!" antwortet der Bischof.
Und er lächelt nicht. Er grinst.
Frankfurter Rundschau - 2002
© Hans W. Korfmann
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