Zwischen Literatur & Journalismus Die Menschen StadtReportagen Reisereportagen Kolumnen, Glossen & Buchbesprechungen Hans W. Korfmann

 

Das grüne Kaffenion

Wenn im November die Wirte der Gasthäuser mit griesgrämigem Gesicht die Bilanz des Sommers ziehen und über den Euro fluchen, wenn die Restaurantbesitzer am Meeresufer die Tische von den Terrassen räumen, um sie vor dem wieder vorrückenden Meer zu schützen, wenn die Frauen am so genannten Busbahnhof, diesem staubigen Platz mit der Mülltonne am Ende der Asphaltstraße, auf dem ein Mal am Tag ein Bus ankommt, ihren schattigen Platz unter dem Dach des Rohbaus verlassen, von wo aus sie während der Saison die Ankunft der Touristen abwarten, wenn es noch stiller wird in Lentas, diesem, wie seine Einwohner meinen, von der Welt ganz zu Unrecht vergessenen Ort an der Südküste Kretas, das, wie die umherliegenden Tempelsäulen und die Reste einer antiken Badeanstalt beweisen, vielleicht das erste Kurbad und vielleicht der erste Erholungsort überhaupt auf Kreta war, - wenn also im November allmählich die Lichter ausgehen in der Bucht zwischen den Felsen, dann bleibt am Ende nur eines übrig: das Licht im Kafenion von Jorgos.
Das „grüne Kafenion“, wie die sommerlichen Touristen es wegen der vielen Blumen gern nennen, liegt nicht unten am Wasser, wo sich die anderen zehn dicht aneinander drängen, sondern am gegenüberliegenden Ende des schmalen Ortes, dort, wo der feuchte Atem des winterlichen Meeres nicht hinreicht. Früher saßen die Männer hier um einen dieser kretischen Kanonenöfen, die irgendwann einmal ein pfiffiger Schmied aus einer der dickbauchigen Gasflaschen zusammenschmiedete, die in jedem Haushalt unter dem Gaskocher standen, als es noch keinen Strom gab, aber man von der archaischen Feuerstelle im Kamin bereits ein Stück abgerückt war.
Die Idee des Schmiedes war so genial, dass bald in jedem Kafenion der Insel ein solcher Ofen glühte, und dass die Gasverkäufer mehrmals das Pfand erhöhen mussten und später die Flaschen überhaupt nur noch im Tausch herausgaben. Kein Küchenherd, kein schamottierter Ofen brachte so schnell Wärme in die Häuser der frierenden Insulaner wie diese simplen Eisenröhren, die man bis zur Weißglut bringen konnte, und deren große Brennkammern halbe Olivenbäume verschluckten.
Heute aber steht bei Jorgos ein richtiger Küchenofen in der Mitte des Kafenions. Das Ofenrohr führt, wie hierzulande üblich, zum Fenster hinaus. Um diesen Ofen sitzen sie jetzt im Winter, die Männer von Lentas, legen Holz nach, trinken Kaffee oder Raki und knacken Erdnüsse, sehen im Fernsehen die Nachrichten und kommentieren ihre Politiker. Sie holen sich ihre Post und ihre Stromrechnungen ab, die noch immer im Kafenion landen und in der Ecke auf einem eigens dafür bestimmten Tisch liegen, noch ganz so wie in den alten Zeiten, als der Postbote noch mit dem alten Moped und der Ledertasche kam. Inzwischen kommt er mit dem Auto. Alles andere wäre Luxus, der Schriftverkehr der Menschen in Lentas mit dem Rest der Welt hält sich in Grenzen. Die Menschen hier schreiben und lesen nicht viel. Dafür reden sie umso lieber.
Vor allem im Winter, wenn die Fremden fort sind. und sich die im Sommer über zehn Restaurants und unter die schattenspendene Zeder am Ende der Straße verstreuten Einheimischen wieder im einzigen Kafenion von Lentas versammeln. Sie reden zwar auch im Sommer, zu Mittag meistens, wenn die Touristen am Strand liegen. Sie reden dann entweder vom Geld oder von den Touristen. Manchmal noch von den Oliven oder vom Fisch. Schließlich gibt es keinen hier, der nicht wenigstens ein paar Ölbäume besäße. , aus denen schließlich das Lebenselixier aller Kreter fließt. Und vom Fisch können sie auch alle reden, weil sie ein Leben lang mit diesen Fischen leben und ein Leben lang diesen Fisch essen. Darüber reden sie im Sommer.
Im Winter aber, da reden sie über alles Mögliche und Unmögliche. Denn im Winter, wenn sie unter sich sind, fallen ihnen auch solche Geschichten wieder ein: Die von dem Alten, der seinen 100. Geburtstag feierte, und dem die Söhne, auch schon in den Siebzigern, eine Packung Viagra schenkten. Oder die von diesem neureichen Gast aus Athen, der das halbe Fleisch an den Knochen ließ, weshalb Jorgos ihm beim Bezahlen zugeflüstert hat: „Von meinen Händen isst Du nie wieder!“ - „Das hast Du ihm wirklich gesagt?“ -„Gott soll mich auf der Stelle verbrennen, wenn ich lüge!“
Oder diese unvergessliche Geschichte von einem Abend, der nun auch schon wieder bald 30 Jahre her ist, als sie spät noch hier saßen und plötzlich taucht dieses Schiff da in ihrer Bucht auf. Ein großes, ein Kriegsschiff, richtet plötzlich den Scheinwerfer auf das kleine Dorf zwischen den Felsen, so dass alles taghell erleuchtet war, die ganze Bucht! „Sofort sind die Alten aufgesprungen und haben gerufen: Die Türken! Und wir haben die Gewehre geholt, alle Männer im Dorf geweckt, sind zum Telefon gelaufen, dem einzigen, das es damals gab, und haben mit Iraklion telefoniert. Doch man wusste noch nichts von einer türkischen Invasion. Wir sollten sie aber unbedingt auf dem Laufenden halten. Wir kauerten hinter den Felsen und lauerten, bis sie ein Beiboot mit vier Männern ins Wasser ließen. Es waren keine Türken, es waren Griechen. Sie sagten, sie seien Ärzte und brächten Medikamente. Sie verteilten auch tatsächlich welche.“ Aber es war die Zeit der Junta, und was genau die damals wollten, das weiß bis heute niemand. Und weil seitdem nichts wirklich Aufregendes mehr passiert ist in Lentas, sprechen sie noch heute darüber.
Die meisten Geschichten kennt der Wirt. Schließlich ist das Kafenion der Umschlagplatz für Gerüchte und Erzählungen, bei ihm gehen sie ein und aus, werden verfeinert, mit Kommentaren angereichert, vervielfältigt. Doch nicht nur lokale Ereignisse machen die Runde um den Ofen: Das Kafenion ist bis heute das Tor zur Welt für das Dorf zwischen den Felsen. Auch wenn die Satellitenschüsseln jetzt Bilder von Hurrikanen, Kriegen und kranken Vögeln empfangen und in jedes Wohnzimmer ausstrahlen: , Nachrichten von einstürzenden Wolkenkratzern und verkohlten Rinderleichen Verstehen tun die alten Griechen diese Bilder erst, wenn sie im Kafenion darüber disktutieren. Was sollen sie anfangen mit Begriffen wie Gentechnologie, Dax oder New Economy, diese Leute, die oft nicht einmal lesen oder schreiben können.
Also stellen sie ihre Fragen in den Raum mit dem Ofen, und meistens weiß jeder etwas darüber, irgend etwas hat man irgendwo schon einmal gehört. Und deshalb entsteht in Lentas manchmal ein merkwürdiges Bild von der Welt, deshalb ist man in Lentas der festen Überzeugung ist, dass es die Bomben und Raketen im Irak waren, diese „Scud“, die für das schlechte Wetter verantwortlich waren, das sie dieses Jahr hatten, mit Sturm und Regen bis in den Juni hinein. So etwas hat es seit siebzig Jahren nicht gegeben, sagen die Alten, die immer gern vom Wetter reden, ein unerschöpfliches Thema. Die „Scud“ also!


Doch nicht nur die fremden Begriffe aus den Nachrichten, auch die neuen griechischen Wortschöpfungen machen zuerst im Kafenion die Runde. Sie werden von den Athenern zurückgelassen, die im Sommer in Lentas auftauchen. Die einheimischen Zimmervermieter heißen neuerdings „Rentroomades“, weil sie überall auf der Straße stehen und „Rent Rooms“ rufen - die einzigen zwei Wörter Englisch, die sie im Gedächtnis behalten. Auch Jorgos ruft bei jedem vorübergehenden Touristen „Rooms, Rooms?!“ - und imitiert damit die wartenden Frauen von der Busstation. Das ist einer seiner Running Gags, der bei den Touristen gut ankommt. Den Raki nennt er „Lentas-Wasser“, und füllt ihn vom Kanister in kleine Plastikflaschen. Jeder Stammgast bekommt zum Abschied eine - damit er nächstes Jahr wiederkommt. Jorgos versteht eben sein Geschäft.
Er ist ein Multitalent. Hirte war er, Tomatenbauer, Lastwagenfahrer, Fleischer und dann arbeitete er noch in dieser kleinen Limonadenfabrik, die einmal neben dem Kafenion stand, und warf ein Auge auf Eva, eine der drei Töchter des Wirts. Und Eva warf ein Auge auf Jorgos, immerhin nur einer von vielen Männern im Dorf, und nur einer von acht Jorgossen. Beinahe die Hälfte aller Männer in dem kleinen Ort hieß Jorgos. Aber dieser Jorgos hatte einen wuchtigen Schnauzer und ein Lachen, das zwischen den Felsen der Bucht hin- und herrollte wie ein Donner, und manchmal, im schwachen Licht der Gaslampe, wenn die Mutter es nicht sah, haben sie sich zugelächelt, die Eva und er.
Der Vater von Eva hatte es wahrscheinlich gleich bemerkt, aber nichts gesagt. Der Vater verstand etwas vom Leben, seit 50 Jahren war er Wirt in Lentas, hatte zuerst ein Kafenion unten am Meer, wo die Fischer mit ihren Booten landeten, dann zog er ein Stück weiter den Hang hinauf, und am Ende baute er das „grüne Kafenion“. Er registrierte alles, was im Kafenion geschah, ohne eine Miene zu verziehen, nahm achselzuckend die extravaganten Wünsche der Griechen entgegen, die ihre Weltläufigkeit durch die komplizierte Bestellung ihres Kaffees unter Beweis stellen wollten und ihren Mokka süß, halbsüß oder ganz ohne Zucker, aufgekocht, kurz aufgekocht, gar nicht aufgekocht und letztendlich niedrig, hoch oder halbhoch in kleine Tässchen eingegossen haben wollten. Bis heute gibt es diese Kaffeetrinker, und deshalb wollte Jorgos nie Wirt werden.
Aber dann heiratete er sie doch, die Eva vom Kafenion. 1978 war das. Und der alte Wirt, dem Gott keinen Sohn geschenkt hatte, musste sein Kafenion unter seinen drei Schwiegersöhnen aufteilen: Michalis, Lefteris und Jorgos. Sie sollten einander abwechseln, jeder von ihnen ein Jahr lang die Rolle des Wirtes übernehmen. Aber Michalis eröffnete sein eigenes Restaurant, und so blieben nur Jorgos und Lefteris, die das Lebenswerk des Alten in Ehren halten konnten. Und sie gaben sich Mühe, und noch in der „Zeit der Dunkelheit“ erhielten sie als erste eine Konzession zum Betrieb eines Restaurants. Bunte Glühbirnen brachten sie an - und die Gäste kamen wie die Motten.
Ich verstehe eben mein Geschäft!“, sagt Jorgos und zwirbelt seinen Schnurrbart, „ Ich rasiere mich jeden Morgen, kämme mir die Haare, und ich rede mit den Leuten. Auch wenn ich kein Wort Englisch kann.“ Im Sommer steht er am Grill, der Schweiß tropft malerisch und wenn es Abend wird und der Wind gut steht, zieht der Duft des bratenden Fleisches durch die Tavernen am Meer. Auch die kleinen Gruppen passionierter Mountainbiker, die bei 40 Grad über die kretischen Berge radeln, fallen alle gleich bei Jorgos vom Sattel, der ersten Kneipe links, wenn man ins Dorf kommt.

Fünfundzwanzig Jahre ist er jetzt der Wirt vom Kafenion. Auch die Schwiegermutter sitzt noch immer da auf ihrem Stuhl unter dem Fernseher, ganz in Schwarz, wie es sich für Witwen gehört. Sie schaut zu, ob der Schwiegersohn alles richtig macht. Fünfzig Jahre lang war sie die Frau des Wirts, sie versteht etwas vom Geschäft, sie hat Kaffee gekocht, Limonaden serviert, Holz in den Ofen gelegt, den Männern zugehört, erlebt, wie die Straße breiter und asphaltiert wurde, die ersten Touristen und die Strommasten über den Berg wanderten und endlich auch dieses zwischen den Felsen eingeklemmte Dorf im Licht der elektrischen Glühbirnen erglänzte. 1984 war das.
Und Jorgos verkaufte seinen brummenden Stromgenerator. Ein neues Zeitalter brach an für Lentas. Jorgos dachte sogar daran, diesen rauchigen Grill gegen einen elektrischen einzutauschen. Er tat es nicht, Gott sei Dank, die qualmende Holzkohle ist heute sein bester Trumpf. Auch den Generator hätte er eigentlich behalten können.
Alles ist nicht anders geworden, ganz ist die Zukunft noch nicht angekommen in Lentas, und immer, wenn es blitzt und donnert, erlischt das kleine rote Licht an der Kaffeemaschine. Der Strom bleibt aus. Und dann muss Jorgos den Mokka wieder wie früher kochen. Von hoch oben, lange aufgekocht, halbsüß, und ohne Umrühren bitte!
Und dann sitzen sie eben doch wieder im Licht einer rauchigen Petroleumlampe oder einiger tropfender Kerzen und erzählen. Vom Arzt, der morgen wieder ins Kafenion kommt, jeden Dienstag, so wie schon seit dreißig Jahren, und Medikamente bringt und zwischen Limonadenkästen und Rakigläsern seine Sprechstunde abhält. Von den neuen Sonnenschirmen, die sie unten am Meer aufgestellt und für die sie alle im Dorf zusammengelegt haben, jeder etwa fünf Euro. - ausgenommen die alte Elpida, die sich weigerte, weil sie schon 80 Jahre ohne Sonnenschirme ausgekommen sei. Oder von dem „Neuen“ aus Heraklion, diesem fremden Pensionsbesitzer, der sich hier zwischen den Felsen eingekauft hat und gestern abend mit einem großen Karton hereinkam, ihn bedeutungsvoll in die Mitte des Raumes stellte und ihn vor den neugierigen Augen aller Anwesenden öffnete, um dann nichts aufregenderes als eine neue Schiffsschraube für sein Motorboot ans Licht des Kafenions zu befördern. Oder von Nikos, der vorgestern seinen letzten, goldenen Zahn verschluckt hatte. „Und? Hat er ihn gefunden?“ - „Jaja, er hat heute morgen in seiner Scheiße herumgestochert, ihn herausgeangelt, kurz am Hemd abgeputzt und wieder reingesetzt!“

Tja, das sind so Geschichten, die sie sich erzählen, im Kafenion, am Ofen, wenn es Winter wird in Lentas, oder in irgendeinem anderen kleinen Dorf auf Kreta, das bis heute darauf wartet, endlich entdeckt zu werden.

Der Tagesspiegel - 2001
© Hans W. Korfmann

zurück