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Belagert wie eine Festung, umgarnt wie eine Braut
Doch die Kreter sind widerspenstig, Fremde konnten nie Fuß fassen auf dem schroffen Felsen
VON HANS W. KORFMANN

Immer wieder näherten sich feindliche Flotten und legten Feuer an den Ufern der Insel, die sich über die Berghänge fraßen bis hinauf zu den obersten Grenzen des Waldes. Den Rest besorgten die Ziegenherden, die über alles, was nachwachsen wollte, herfielen. Nur in einigen Tälern stößt man noch heute auf Spuren jener Vegetation, die einst die größte Insel der Ägäis bedeckte, und nüchtern betrachtet ist sie nichts als ein nackter Fels im Meer. Katzanzakis, der berühmteste Dichter Kretas, verglich das Land etwas optimistischer immerhin mit einem Stück guter Prosa: Karg, streng und ohne Überladenheiten. Die kretischen Volkslieder jedoch besingen sie euphorisch als die "schönste Perle des Mittelmeeres".
Nicht ganz zu Unrecht: Seit Menschengedenken ist Kreta belagert wie ein Festung und umworben wie eine Braut. Nachdem Knossos, die viertausend Jahre alte Wiege der europäischen Kultur, untergegangen war, umkämpften die Dorer, die Venezianer und Osmanen, die Türken und zuletzt die Deutschen während des zweiten Weltkrieges die südliche Spitze des europäischen Kontinents. Doch die Kreter sind widerspenstig und halten zusammen, Fremde konnten nie Fuß fassen auf den schroffen Felsen. Vor einiger Zeit hingen in den Kafenions noch die Bilder von Bauern, die mit Schrotflinten, Prügeln und Mistgabeln die Fallschirmspringer der Wehrmacht in die Flucht schlagen.

Die Gastfreundlichkeit, mit der die Griechen Fremde an ihre Tische bitten, kann nicht darüber hinwegtäuschen: Das Mißtrauen gegen solche, die nicht von hier kommen, sitzt tief. Und jedes Jahr, wenn im Herbst die letzten Flugzeuge die Insel verlassen haben, atmet man auf an der Küste - zählt die Scheine und dankt Gott, daß die Fremden wieder fort sind. Die Männer in den Bergen ziehen die geflickten Hosen an, holen die Planen aus den Schuppen, Säcke und Sägen, Stangen und Stöcke. Man rüstet zur Olivenernte, die den ganzen Winter über andauern wird. Auf Pritschenwagen und Eseln, mit Rucksäcken voller Brot, Wein und Käse rücken sie an, die öligen Früchte von den knorrigen Bäumen zu schlagen. Abends sitzen sie im Kaffeehaus um die rauchenden Öfen, trinken, spielen Karten und erzählen die alten Geschichten. Anekdoten, die jedes Jahr wieder aufgewärmt werden und die Zeit stillstehen lassen. Auch die Geschichte von Georgos und seinem Vater Iannis, den beiden Köhlern. Es ist eine der beliebtesten Geschichten in Voulgaro, einem Dorf im Westen Kretas, acht Kilometer von der Küste.

Georgos ist hier geboren, in dem Haus oben neben der Kirche. Dort, wo heute nur noch die Schweine und ein paar Hühner hausen, und wo seine Meiler qualmen. Er hat sein ganzes Leben in Voulgaro verbracht. Wenn er einmal weg war, dann nicht länger als für drei Tage, und nicht weiter als bis nach Athen. Trotzdem - er ist ein Fremder geblieben.

Denn Georgos ist der Sohn von Iannis, jenes merkwürdigen Mannes, der eines Tages "wie aus heiterem Himmel im Dorf auftauchte". Vierzig Jahre ist es her, aber sie lachen, als wäre es gestern gewesen: Da kam ein Mann den Weg entlang, an einem Stock über der Schulter sein Bündel, und an der andern Hand seine Frau. Seit Tagen war er unterwegs gewesen auf der Suche nach "gutem Holz!" Und hier, ausgerechnet hier in Voulgaro, glaubte er, es gefunden zu haben: trockenes, steinhartes Holz.

Sie waren skeptisch, sie mochten keine Vagabunden, und fragten ihn aus. Er komme aus den "Weißen Bergen", sagte der Fremde, da gebe es zwar Holz, aber keine Straßen. Und die Winter seien hart. Die Männer blieben mißtrauisch. Erst als Iannis ihnen anbot, das Land zu roden, und als Bezahlung reiche ihm das Holz, das dabei anfiele, da klopften sich die Einheimischen im Kafeníon auf die Schenkel und die Schultern. Sie glaubten, das Geschäft ihres Lebens zu machen.

Am Morgen nahm der Fremde sein Bündel und machte sich an die Arbeit. Einen ganzen Sommer brauchte er mit seiner rostigen Säge, bis er Holz genug zusammenhatte für den ersten Meiler. Gleich an der Straße hatte er die Meiler aufgeschichtet und daneben sein Zelt aufgeschlagen. Als er das vier Meter hohe Bauwerk nach zwei Wochen löschte, sahen sie, daß der Mann sein Handwerk verstand: Die Kohle war fest und schwer wie Stein. Und als er sie nach Chania verkaufte, bekam er gutes Geld dafür.

Seitdem hat der Fremde aus den "Weißen Bergen" viel Land gerodet in der Gegend, er hat Platz geschaffen für Olivenplantagen und Weinberge, Gärten und Orangenbäume, und wenn die Landschaft von Voulgaro im Laufe der Jahre eine andere Gestalt angenommen hat, dann hat Iannis dazu viel beigetragen. Dort, wo einst die Zeltplane ihn vor Sonne und Regen schützte, hat er später ein Haus gebaut, und zum Dank für Gottes Hilfe, die ihn hierherführte, errichtete er auf der andern Seite der Straße eigenhängig eine Kapelle, "Agios Ioannis". Einmal im Jahr findet hier ein großes Fest statt, in dem sie aus allen umliegenden Dörfern kommen, die dicken Bürgermeister und die zufriedenen Popen, die durstigen Bauern und die geschwätzigen Frauen, und alle essen und trinken unter der Weinlaube im Garten vor der Kirche, die Iannis zwei Tage vor dem Fest frisch kalkt. An diesem Tag, an dem man in "Agios Ioannis" feiert, ist es, als gehöre er nun endlich zu ihnen.

Eine Kirche und ein Haus hat er hingestellt an die Straße, die Keimzelle einer menschlichen Siedlung. Und vielleicht wäre wirklich ein Dorf aus dem Zeltplatz gewachsen, wenn nicht unten an der asphaltierten Straße mit dem elektrischen Strom die Zivilisation Einzug gehalten hätte in der Region. Der Ort des Köhlers aber war über zwei Kilometer entfernt vom Netz der Elektrizitätsgesellschaft, und der Fortschritt ging an seinem Haus vorüber: Am Berg brannten noch jahrelang die rauchigen Petroleumlampen, als unten im Dorf schon alles im Glanz der elektrischen Glühbirnen erstrahlte.

Zwei Söhne brachte Iannis' Frau zur Welt. Einer von ihnen ertrank vor einigen Jahren, seitdem geht der Alte nicht mehr ins Wasser. Auch die Frau, die er einst an der Hand hierherführte, ist lange gestorben. Übriggeblieben ist Georgos, und Georgos hat das Erbe des alten Köhlers übernommen: Er riecht nach Benzin, Kohle, Holz und Schweiß. Selten durchdringt ein Lichtstrahl den schwarzen Staub auf seiner Haut.

Georgos ist 50 Jahre alt und hat vier Kinder, zweitausend Olivenbäume, zwei Traktoren, einen nagelneuen Audi, einen verbeulten Pritschenwagen für das Holz und etliche Motorsägen. Er wohnt längst unten im Dorf im größten Haus mit Marmorfliesen und Bidet und einem Balkon, zu dem ihm die Leute von der Straße aus zuwinken. Fast ist er einer von ihnen, selbst der Pope kommt ab und an auf ein Stück Fleisch bei ihm vorbei, oder auf ein Glas selbstgebrannten Schnaps. Aber wenn er oben ist am Berg, wenn er dort fünf Meiler in einer Reihe aufschichtet, "so hoch wie Vulkane", dann hört er sie hinter seinem Rücken flüstern: "Der ist verrückt, der ist wie ein Tier". Die Leute in Voulgaro verstehen nicht, wieso dieser Mensch Tag und Nacht arbeitet, wieso er keine Sonntage kennt und keine Feiertage. Er hat doch längst alles, was einer zum Leben braucht. Aber Georgos hat nichts anderes gelernt von seinem Vater als diese Suche nach Holz, diesen Kampf gegen die Wildnis. Von jenem "Alten", der an seiner Seite steht und die Säge nicht aus der Hand legen kann, auch wenn die Glieder längst zittern.

Iannis sägt das Holz auch heute noch mit der Bogensäge, Stück für Stück, er mag keine Maschinen. Alles hier hat er langsam und mit Geduld geschaffen, vor allem mit Geduld, das Haus, die Kirche, den Olivenhain, mit Geduld und seiner Hände Arbeit, in "einem einzigen kleinen Leben. Und er ist erst siebzig Jahre alt!"

Natürlich liebäugeln auch die zwei Jungen des Köhlers mit den Touristinnen unten am Meer, den Cafés und den Diskos, dem goldenen Sand statt dem schwarzen Staub. Georgos sagt, daß seine Kinder es nicht mehr nötig haben werden, so viel zu arbeiten wie er. Obwohl sich das Geschäft noch immer lohnt. Gerade jetzt ist der Preis für die Kohle wieder gestiegen. Schließlich dient sie nicht mehr den wenigen alten Mütterchen in ihren schwarzen Röcken, die seit dem Tod ihrer Männer den Ofen haben ausgehen lassen und abends um die Kohlebecken in der Küche sitzen, um sich Füße und Finger wärmen. Die meiste Kohle, die Georgos verkauft, landet in den Restaurants und dient dem leiblichen Wohl der Touristen. Es ist die Holzkohle der Eichen, des Erdbeerbaums, der alten Olivenbäume, die dem Fleisch diesen unverwechselbaren Geschmack gibt, von dem die heimkehrenden Urlauber noch den ganzen Winter erzählen.

Georgos hat nichts gegen die Fremden. "Sie sind gut, die Touristen, Menschen sind auch die", sagt er und zuckt mit den Schultern. Nicht nur, weil sie seine Kohle brauchen. Sondern aus eigener Erfahrung.

Am Tag, wenn sie in Agios Ioannis das Lamm grillen und den Pilafi rühren, dann pumpt auch Georgos Luft in seine stolze Brust und stimmt mit ein in die alten Matinades, die kretischen Volklieder von der schönen Insel, der Perle des Mittelmeeres. Das Klima ist mild, das Leben ist freundlich hier. Henry Miller schrieb, Gott müsse gelächelt haben, als er Kreta erschuf. Wenn irgendwo in den Runzeln der zerklüfteten Insel sich Erde ansammelt, wenn irgendwo aus einem Stein eine Quelle entspringt, dann gedeiht hier alles, was der Mensch zum Leben braucht. Man hatte Öl, Fleisch, Fisch, Brot und Wein im Überfluß, kein Bauernhaus war ohne Stall und Weinfaß. Dieser Reichtum will behütet sein, und jeder echte Kreter hat in der Küche die Schrotflinte und unterm Kopfkissen die Pistole. Wenn sie trinken und tanzen, dann ziehen sie ihre Revolver aus der Jacke und feuern Salven in die Luft, die noch im nächsten Tal zu hören sind.

Doch die drohenden Gebärden sind umsonst. Die Zeugen des einstigen Wohlstandes liegen längst im mannshohen Unkraut vor den verlassenen Steinhäusern verlassener Bergdörfer: Große Fässer, die jahrzehntealten, bernsteinfarbenen Wein bargen - genug, um ganze Dörfer tagelang zu berauschen -, sind aus dem schattigen Haus gerollt worden und bersten unter der Sonne, um Platz zu machen für das neueste Modell eines japanischen Sportwagens. Aus den tönernen Krügen, in denen jahrhundertelang Öl und Käse lagerten, wachsen die Geranien wie auf dem Gästehof des Alpenvereins. Statt der meckernden Ziegen im Stall summt die Tiefkühltruhe in der Küche. Georgos sagt: "Kreta braucht sich nicht mehr zu fürchten vor den Fremden - wir haben es doch längst verkauft."

Tips für Kreta

-Anreise : Mit Linienflügen nach Athen (ab etwa 600 Mark) und Weiterflug nach Chania oder mit dem Schiff täglich abends 20 Uhr ab Athen. In der Hauptsaison - Ende Mai bis Oktober - verschiedene Charterangebote ab Schönefeld oder Tegel zwischen 639 und 799 Mark, je nach Saison.

-Reisezeit : Der Frühsommer wird von vielen geschätzt. Im Hochsommer ist es den meisten Mitteleuropäern zu heiß, doch im Herbst bleibt es noch lange angenehm warm. Als Winterziel hat sich Kreta noch nicht durchgesetzt, obwohl die klimatischen Bedingungen nicht viel anders als auf Mallorca sind.

-Veranstalter : Ilios Reisen, Kantstraße 90 (Telefon: 323 20 93) bietet Unterkunft in familiengeführten Pensionen und Appartements in Kastelli und Umgebung inklusive Flug für eine Woche ab 970 Mark, Verlängerungswoche zirka 200 Mark. Ausführlicher Katalog.

Kriti, Reisebüro und Weinhandlung, Hufelandstraße 3 (nähe Alexanderplatz), Telefon: 421 70 90. Auskunft über sämtliche Flugverbindungen nach Kreta, Vermittlung vornehmlich kleinerer Pensionen und Appartements. Umfangreiches Lektüreangebot, Reiseführer, Weinproben, individuelle Beratung. Vertretung vor Ort in Chania (Westkreta).

-Verkehrsmittel : Günstige Linienbusse. Mietwagen ab 40 Mark pro Tag. Von Leihmopeds oder Motorrädern ist abzuraten, da der Fahrstil kretischer Autofahrer wenig Gewähr zum Überleben der schwächeren Verkehrsteilnehmer bietet.

-Literatur : Eine nette Einstimmung sind Erhart Kästners Reisenotizen aus den Vierziger und Fünfziger Jahren, insbesondere "Kreta", Inseltaschenbuch Nr.117.

Auch Henry Millers "Der Koloss von Maroussi" (jugendfrei) ist durchaus empfehlenswert für Kretabesucher ab 12 Jahre.

Darüberhinaus die üblichen Kretareiseführer etwa von Marco Polo, Polyglott oder das ADAC-Spezial "Kreta".

-Auskunft : Griechische Zentrale für Fremdenverkehr, Wittenbergplatz 3a, 10789 Berlin; Telefon: 217 62 62, Fax: 217 79 65.

Der Tagesspiegel - 1997
© Hans W. Korfmann

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