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Der weiße Karneval

 
 

Feine Herrschaften rauchen Havannas, falsche Dienstmädchen schwingen die Hüften: Am Tag der Indianos spielt die Kanareninsel La Palma Karibik.

Von Hans W. Korfmann

beste Reisereportage nationale Medien 2012

Es war ruhig geworden auf der grünen Insel, es kamen keine großen Schiffe mehr, um Fässer mit Trinkwasser zu füllen, bevor sie über den Atlantik in die Neue Welt segelten. Man lud keinen Wein mehr, um ganz Europa damit zu versorgen, auch das Geschäft mit dem Zuckerrohr, den Bananen und dem karminroten Farbstoff der Koschenille-Laus lief schlecht. 10.000 Menschen, ein Drittel der Bewohner La Palmas, waren über Generationen nach Kuba, Venezuela und Brasilien ausgewandert. Nun schrieb man das Jahr 1970. Und Victor Díaz Molina, der zu Hause geblieben war, langweilte sich. Er traf sich mit seinen Freunden am Hafen von Santa Cruz, und weil Karneval war, kamen Yolanda Cabrera und ihr Bruder auf die Idee, sich zu verkleiden. Mit einem hölzernen Reisekoffer liefen sie durch die Straßen, so wie einst die Indianos: jene Auswanderer, die in Südamerika tatsächlich ihr Glück gemacht hatten und nach Jahrzehnten in edlen weißen Klamotten, mit Koffern voller Geld und dunkelhäutigen Hausmädchen nach La Palma zurückgekehrt waren.

Außerdem beschlossen Victor und seine Freunde, jeden, dem sie begegneten, mit Talkpuder zu bewerfen. Das war schon einmal Sitte gewesen auf der Insel, bis die Kirche dem heidnischen Pulverfest ein Ende setzte. »Wir waren vielleicht zehn, hatten fünf Dosen mit Talk dabei und liefen vom Hafen zur Plaza de España. Es war sehr lustig.«
Deshalb verkleideten Victor und seine Freunde sich auch im nächsten Jahr wieder und im übernächsten. Einmal fummelten sie sich in die ausgedienten Uniformen der Iberia-Airlines und zogen zur Startbahn, die man zwischen den Friedhof und eine tiefe Schlucht an den steilen Hang gequetscht hatte. Der Kapitän der Maschine zögerte nicht, die verführerischen Stewardessen an Bord zu lassen, und wenig später balancierte Victor ein Tablett mit Whisky und Wein durch die Reihen der Passagiere.

»Wir hatten nicht viel, Anfang der Siebziger, aber wir hatten Spaß«, sagt Victor Díaz Molina, der im Garten vor seinem kleinen Haus sitzt und zu dem großen, hölzernen Vogelkäfig schaut, in dem vor Kurzem noch Kanarienvögel zwitscherten. Eines Nachts schlich ein Raubtier herbei und nahm sie mit. Auch mit der Musik des Karnevals war es irgendwann vorbei; denn Franco behagte das bunte Treiben nicht. Victor und seine Freunde feierten heimlich weiter, in Kneipen und in entlegenen Gassen, und wenn die Polizei auftauchte, verschwanden alle spurlos in irgendwelchen Hauseingängen. Damals wurde es noch ein bisschen stiller auf der Insel La Palma.

Heute ist es wieder laut. Es sind auch keine zehn Palmeros mehr, die zum Karneval durch die Straßen ziehen, es sind Tausende. Im Kraterrund des alten, zur Hälfte ins Meer gestürzten Vulkans mit dem Hafen von Santa Cruz drehen sich Karussells und ein neongrün beleuchtetes Riesenrad, auf der pinkfarbenen Achterbahn kreischen Kinder vor Vergnügen, vor den Schießständen stehen Frauen, die keine Frauen sind. Eingehakt wie alte Freundinnen, ziehen die Freizeittransvestiten paarweise durch die Straßen, auffällig gekleidete Gestalten mit zu kräftigen Schenkeln und zu kurzen Kleidern. Auch die 20 Trommler aus Dresden sind in diesem Jahr wieder dabei, umringt von einer tanzenden Menge. Sie sind die einzigen deutschen Karnevalisten auf La Palma. »Wir wollen Party«, sagt Krischan, der Vortrommler, und um diese Zeit ist Santa Cruz eine einzige Party. Während in Köln die Rosenmontagszüge mit drögem Rumtärätätää durch die Straßen ziehen, tanzt man hier zu kubanischen Rhythmen. Alles ist südamerikanisch, nur der Federschmuck fehlt – und weniger bunt ist es als in Rio. Vor allem am »Tag der Indianos«, dem alle Palmeros entgegenfiebern, trägt man ausschließlich Weiß – jenes strahlende Weiß, in das sich die erfolgreichen Heimkehrer kleideten, wenn ihre Schiffe nach Jahren endlich wieder im Hafen von Santa Cruz einliefen.

Die Damen halten goldene Papageienkäfige in den Händen

Heute kommen die Schiffe nicht aus Übersee, sondern von den nahen Inseln und vom Festland. Doch wie damals stehen am Tag der Indianos an der Reling feine Herrschaften in weißen Anzügen, die Havanna im Mundwinkel und den Überseekoffer neben sich. Damen in weißen Kleidern halten spitzenverzierte Sonnenschirme und goldene Papageienkäfige in den Händen. Auch ein paar kaffeebraune Hausmädchen mit Spitzenhäubchen, Staubwedeln, gigantischen Hüften und gewaltigen Busen sind an Bord – einst Zierde jedes vornehmen Haushalts.

Nicht nur mit Schiffen und Flugzeugen kommen die Menschen, auch die Busgesellschaft schickt ihre Fahrer im 15-Minuten-Takt in die Hauptstadt. Die überfüllten Fahrzeuge schlängeln sich durch die Kraterlandschaft, rollen aus dem wüsten Süden mit den schwarzen Dünen an, dem Westen mit den tropischen Gärten und Bananenplantagen, dem bewaldeten Norden mit seinen Pilzen; und überall am Straßenrand lesen sie kleine Gruppen auf, die sich als Heimkehrer kostümiert haben: Männer mit Panamahüten und Zigarrenkästchen, Frauen mit weißen Netzhandschuhen und weißen Stoffblumen an weißen Hüten. Nur das Gegacker zusammengebundener Hühner fehlt, sonst könnten die riesigen Kakteen, die an den Busscheiben vorbeiziehen, auch in Südamerika stehen.

Der weiße Puder regnet wie Asche in der Stadt

Am Tag der Indianos sind alle Schaufenster der Stadt weiß dekoriert. Geschäfte bieten weiße Hüte, Hemden, Hosen, Jacken, Schirme an. Selbst im Tabakladen stehen plötzlich Kleiderständer, drehen sich Mädchen im neuen Outfit vor Spiegeln und posieren dann auf der Straße vor jeder Kamera. Männer lehnen lässig in weißen Anzügen vor den Bars und lassen aus Havannas kleine Wölkchen in Richtung Sonne aufsteigen. Am Tag der Indianos wird der Krater zum Amphitheater, und jeder ist ein Star; jeder weiß, was gespielt wird.

Auf der Straße verkaufen echte Südamerikaner in bunten Ponchos Dosen mit Puder; die Besitzer der kleinen Geschäfte in der Calle O’Daly kalfatern vorsorglich Türen und Fenster mit Klebeband. Sie wissen, dass der Sturm nicht ausbleiben wird, dass am Nachmittag dichte Wolken weißen Puders wie ein Ascheregen über dem Städtchen niedergehen werden, dass die Häuser erblassen werden – all diese bunten Häuser mit ihren blau, gelb, rot lackierten Türen und Fensterläden, deren kräftige Farben noch aus Tagen stammen, als den Bauern jeder Farbtopf recht war, den sie geschäftstüchtigen Matrosen im Hafen abkaufen konnten.

Am Mittag ziehen immer mehr Menschen über die Avenida de los Indianos vom Hafen zur Plaza de España, wie einst Victor Díaz Molina und seine Freunde. Sie warten auf die Ankunft der Negra Tomasa, der üppigen Karikatur eines dunkelhäutigen Hausmädchens. Bejubelt von Tausenden Männern in Weiß und belächelt von weißhäutigen Damen, schwingt sie ihre mit Kissen ausgestopften Attribute der Weiblichkeit zur Musik. Niemand würde unter den Massen von Tüll und Stoff und der dicken, glänzenden Schicht schwarzer Schminke jene falsche Stewardess vermuten, die vor 40 Jahren im Flugzeug von Santa Cruz nach Teneriffa Whisky und Wein servierte und die Anfang der siebziger Jahre begann, in der Stadt Talk zu verstäuben.

Wenig später wogt auf dem kleinen, dicht von Häusern umstellten Platz zwischen Kirche und Rathaus ein Meer weißer Hüte. Über der Szenerie hängt eine weiße Wolke, die das Licht der Sonne verschleiert. Und die berühmte Negra Tomasa, deretwegen sie alle gekommen sind, ist nirgends mehr zu sehen. Sie ist längst untergegangen in dem weißen Menschenstrom, der sich irgendwann in die Seitenstraßen und Bars ergießt, allmählich in kleine weiße Grüppchen zerfällt, zu weißen Tupfern in den Parkanlagen und auf der Hafenmole. Ein Hauch von Siesta ist zu spüren.

Doch dies ist nur eine kurze Ruhe vor dem Sturm, der am Nachmittag losbricht. Und während es am Vormittag die Kinder waren, die sich in Puderwolken hüllten, so sind es jetzt die jungen Wilden und die Heiratsfähigen, die einander nachstellen; es sind die längst verheirateten Damen und Herren, sogar Großmütter, die ihre Atemwege mit Spitzentaschentüchern schützen. Ganz Santa Cruz versinkt in einem weißen Rausch, und tauchte eines jener Schiffe aus der Vergangenheit auf und steuerte auf die Insel zu, dann hielten die Heimkehrer an Bord diese Stadt wohl für einen strahlenden Traum.

Auf jeder winzigen Kreuzung sind Menschenmassen, drehen sich Tänzerinnen und Tänzer, während die schwarzen Tomasas mit den Hintern wackeln und mit den Wimpern klimpern. Eine weiße Kanone feuert Talksalven in die Menge, die Bühnen, auf denen am Nachmittag kubanische Combos spielen, biegen sich abends unter der Last der Tanzenden, aus Tango wird Techno, und Krischan aus Dresden ist voll dabei, dirigiert mit ausgestreckten Fäusten, als wäre er auf der Loveparade in Berlin. Selbst um Mitternacht ist es nicht dunkel an diesem Abend, das Licht der Laternen reflektiert von den weißen Wänden und weißen Gesichtern, die Dächer der Häuser und die Spitzen der Palmen sind weiß vom Staub, und noch im Grauen des Dienstagmorgens tänzeln weiße Gestalten durch die Stadt.

Am Aschermittwoch aber ist alles vorbei. Die weißen Blusen, Hüte, Hosen in den Geschäften sind verschwunden. Immer mehr Menschen treten in Trauerkleidung aus den Häusern, kostümiert wie die Frauen, die einst von den Auswanderern auf der Insel zurückgelassen wurden. Auf hohen Schuhen und in schwarzen Nylons schieben die Jammernden schwarze Kinderwagen voller Rum durch die Straßen und ziehen zur Plaza de la Alameda. Dort ist eine riesige, hölzerne Sardine aufgebahrt, ein grün lackierter, schlanker Fisch mit knallroten Lippen und goldenem Röckchen. Unter den dichten Schirmen indonesischer Lorbeerbäume tanzen die Frauen, schöne, hässliche, echte, falsche, tanzen ein letztes Mal und machen sich gemeinsam auf den Weg zum Hafen.

Vom Wagen regnen statt Bonbons stinkende, gegrillte Sardinen

Immer mehr werden sie, Gaukler und Feuerspucker haben sich angeschlossen, neugierige Kinder, der Tod und der Teufel, der auf langen Stelzen und mit roter Fratze den finsteren Zug überragt. In der Mitte der Prozession tragen schwarze Totengräber die Sardine zu Grabe, während am Ende des Trauerzuges ein rauchender Karnevalswagen fährt, von dem keine Bonbons, sondern stinkende, gegrillte Sardinen geworfen werden.

Santa Cruz steuert auf das Ende des Karnevals zu, feierlich wird Feuer gelegt an die grüne Sardine, die im vergangenen Jahr sogar groß war wie ein Schiff. Keiner weiß mehr genau, warum ausgerechnet eine Sardine das Ende des närrischen Treibens symbolisiert, aber schon züngeln erste Flammen, und während sie höher und höher schlagen, steigen Raketen auf, immer mehr, immer lauter, bis die Sardine lichterloh brennt und die letzten großen Farbkleckse am Himmel explodieren. Einen langen Moment hallt der finale Donner im Krater nach, dann tritt Stille ein. Das Fest ist aus, die Zeit der Ausgelassenheit vorüber.

»Das war ja eine mickrige Sardine. Wahrscheinlich haben die kein Geld mehr! Und den Stoff für mein Kostüm musste ich auch selbst zahlen«, sagt Victor Díaz Molina, lacht aber. Dabei haben die Airlines 28 Sonderflüge gestartet, die Fähren fuhren den doppelten Umsatz ein; und es waren auch keine fünf kleinen Puderdosen mehr: Allein in den Flugzeugen wurden 5.000 kostenlos verteilt, in den Läden des Hafenstädtchens standen 25-Kilo-Säcke. Insgesamt sollen an diesem Montag 20 Tonnen Talk in der Luft gewesen sein.

»Alle«, sagt Victor, »haben verdient.« Die Busfahrer, die Boutiquebesitzer, die Souvenirverkäufer, die Hotels, Restaurants, sogar die Bettler. »Nur ich nicht.«
Dem alten Karnevalisten ist das egal. Er sitzt in seinem Garten, in dem kein Kanarienvogel mehr singt, und auf dem Tisch vor ihm liegt eine goldumrandete Fotografie, auf der Victor vor König Juan Carlos tanzt. Der König lacht herzlich, zum Dank hat er die Fotografie unterschrieben.

Treue zu der Frau aus Havanna

»Ich habe wenigstens den Ruhm«, sagt Victor Díaz Molina. »Die Negra Tomasa, die echte, hat nicht einmal den!«
Und dann erzählt Victor, wie er eines Tages nach Kuba fuhr, für eine Woche nur, Anfang der sechziger Jahre, um Freunde zu besuchen. Um zu sehen, wie die Auswanderer eigentlich leben und ob da wirklich alle so weiß gekleidet sind. Und da erzählten ihm die Freunde von ihrer Lieblingsbar und zeigten ihm Fotografien, wie sie da standen, Arm in Arm mit einer dicken, lebenslustigen, bunten Bardame, die sie nach einem Volkslied alle Negra Tomasa nannten. Victor Díaz Molina ist nie dort gewesen, er hat diese dralle Dame in Havanna nie getroffen. Aber irgendwann, als man auf La Palma längst schon wieder Karneval feiern durfte, fiel sie ihm wieder in die Hände, die zerknitterte Fotografie dieser Frau, die mit ihrem Blümchenkleid, ihren geschminkten Lippen und dem großen Busen den dicken Haushälterinnen des Karnevals ähnelte. Und seitdem, jedes Jahr am Tag der Indianos, verwandelt er sich in die Frau aus Havanna. Seit 20 Jahren nun hält er ihr die Treue und zieht in ihren Kleidern durch die Hauptstadt La Palmas.

Einmal hat er der Frau in Havanna einen Brief geschrieben. Sie müsse kommen, sie müsse das einmal erleben, wie berühmt sie geworden sei, wie viele ihrer Doppelgängerinnen durch die Straßen liefen und wie viele Menschen kämen, nur um sie zu sehen. 65.000 sollen es beim letzten Mal gewesen sein. Doch die wahre Negra Tomasa ist nie nach La Palma gekommen. »Irgendwie ungerecht...«, sagt der alte Mann, der eigentlich immer nur lacht, und blickt plötzlich etwas nachdenklich drein.

Anreise: Direktflüge zum Beispiel mit Air Berlin oder Condor von vielen deutschen Flughäfen

Unterkunft: Die Räume der Pension La Cubana und der Apartamentos La Fuente nahe der Plaza de España sind eher schlicht; einige Zimmer haben aber auch glänzende Holzböden und koloniales Flair. Tel. 0034-922/415636, www.la-fuente.com. Appartement ab 38 Euro, DZ ab 28 Euro
Die Finca Dona Arminda thront in einem großen Garten über dem Meer. Die selbst ernannte »kleinste Pension La Palmas« vermietet vier Wohnungen in einem 300 Jahre alten Haus. Die Möbel verströmen den Charme vergangener Zeiten, das Frühstück hat Stil. Tel. 0034-922/428432. DZ/F ca. 80 Euro
Ebenfalls über der Stadt, in Breña Baja, steht das Vier-Sterne-Hotel Parador de la Palma mit künstlichem Wasserfall, Wellnesscenter, Pool und Balkonen in der Morgensonne. Mondän. Tel. 0034-922/435828, www.parador.es/de/parador-de-la-palma. DZ ca. 150 Euro

Verpflegung: Das Lokal Mambrino gegenüber der Markthalle (Avda. El Puente 19, Tel. 0034-922/411873) hat einen Patio und hübsche Räume im ersten Stock; im Hinterzimmer spielen alte Palmeros Domino. Traditionelle Gerichte, Mittagsmenü ca. 10 Euro. Gleich nebenan: Die von Einheimischen geschätzte Cafetería Tajurgo, Mittagsmenü inkl. Brot und Wein 8,50 Euro

Information: Der Día de los Indianos, der Tag der Indianos, findet in diesem Jahr am 20. Februar statt. www.losindianos.es

Die Zeit - 11.2.2012
© Hans W. Korfmann

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