Das kleine Inselglück
Mittags mit den alten Männern Boote gucken, abends tanzen beim trinkfesten Wirt: So macht man Urlaub auf Marettimo
Von Hans W. Korfmann
Es ist nicht sicher, ob das Boot fährt. Es kann sein, dass es bei Favignana umkehrt. Das Ticket verfällt dann. Wollen Sie trotzdem eines?« Der Mann am Schalter spricht italienisch. Hier unten, an der Westküste Siziliens, hundert Seemeilen vor Afrika, sprechen alle italienisch. Auch die Touristen. Deutsch spricht man in Rimini und Pisa. »Aber wenn dieses Schiff nicht fährt«, sagt der Mann in dem Container, der am Hafen von Trapani unter einer heißen Morgensonne steht, »dann fährt gar keines. Nicht um neun, nicht um zehn und nicht am Nachmittag.« Er wischt sich die Schweißperlen von der Stirn und setzt mit eindeutiger Handbewegung hinzu: »Finito!«
Das hört sich an, als sei Marettimo das Ende der Welt. Dabei kann man die westlichste Insel der Ägaden von hier aus sehen. Doch Trapani, die Stadt, an der alle vorüberfahren, weil alle nur zum Hafen wollen, ist die Stadt der vier Winde, »aus irgendeiner Richtung weht es immer. Bis Favignana geht es, aber Marettimo liegt weiter draußen, da kommen die Wellen zu den Fenstern rein.« Im Winter ist die Insel manchmal tagelang nicht zu erreichen.
Aber jetzt ist Sommer, souverän heulen die Motoren auf, leicht schwingt sich das Tragflächenboot aufs Meer. Viel zu leicht vielleicht für die schwere See, schon lassen sich die ersten Passagiere Plastiktüten reichen, Frauen lehnen sich an die vermeintlich starken Schultern der Männer, sogar die Kinder sitzen, und der Carabiniere, der zuvor so stolz und groß an Bord kam, wirkt ganz klein auf seinem Platz. Auch die aufgeregten Gespräche, mit denen sich die Studenten eine Weile über Wasser gehalten haben, sind verstummt, keiner schaut mehr zu den Fenstern hinaus, gegen deren Scheiben das Meer so lautstark poltert. Und plötzlich ist alles still.
Da liegt Marettimo. Ruhig ist das Wasser jetzt, tiefblau und unschuldig. Friedlich schaukeln die Fischerboote, kleine und große, unzählig viele. Nicht mehr wüstenfarben und afrikanisch wie in Trapani, sondern strahlend weiß und mit griechisch blau lackierten Fensterläden steigen die Häuser den Hang hinauf. Darüber steht ein tiefgrünes Wäldchen, ganz hinten ragt steil der Pizzo Falcone in die Höhe. Selten ist der Anblick von Land so schön wie nach schwerer See.
Am Pier stehen Menschen und warten auf Verwandte. Auf Gäste, auf die Gasflaschen, die Zeitungen, »Nachrichten vom Festland«. Die Nachrichten von hier, die sprechen sich schnell herum unter den 200 Einwohnern Marettimos. Ein wunderbarer Duft weht den Seefahrern jetzt entgegen, es riecht nach Korn und Erde, nach gedeckten Tischen und schattigen Häusern. Wie ein Ariadnefaden zieht sich der Duft frisch gebackenen Brotes durch die verwinkelten Gassen hinunter an den Hafen und lockt die Reisenden in den Ort hinauf. Oben angekommen, in der Backstube mit ihren Croissants, Keksen, dem Olivenbrot, ist es höllisch heiß. Überall, in jedem noch so kleinen Zimmer Marettimos, kreisen unermüdlich die Ventilatoren, nur beim Bäcker steht die Luft, schwer taucht er die dicken Arme in den Teigklumpen.
Nino Maiorana klemmt sich das Brot unter den Arm. Er kommt jeden Morgen, wie alle andern auch. »Früher«, sagt er, »haben wir noch selbst gebacken, einmal die Woche. Aber dann kamen die Touristen. Da brauchten wir natürlich einen Bäcker.«
Noch in den siebziger Jahren gab es auf Marettimo nur den Fleischer. Und der verkaufte in der Hauptsache Eiscreme. Denn hier essen sie immer »Fisch, Fisch, Fisch! Siebenmal die Woche Fisch!«, sagt Nino. Nino ist kein Fischer geworden. Er kümmert sich um den Wald mit den Mufflons und Wildschweinen. Aber sein Vater, Michele Maiorana, fischt noch immer. Wie seine drei Brüder. Zusammen zählen sie 350 Jahre, und ihre Frauen hören nicht auf zu meckern, weil sie wie eh und je rausfahren. »Fischen ist doch unser Leben!«
Was hätten sie sonst auch machen sollen? Alle waren Fischer, auch die, die um 1900 nach Kalifornien ausgewandert sind, weil ihnen Marettimo mit seinen paar Feldern und dem bisschen Obst und Getreide zu klein geworden war. 1200 Menschen lebten in dem einzigen Ort der Insel, unter dem Berg, der jeden Wind einfängt, und an dem, wie eine Fahne, immer ein weißes Wölkchen flattert. Heiß ist es trotzdem immer, so nah an Afrika.
»Ich wollte nie fort von hier«, sagt Michele Maiorana. »Wir fischten und spielten Karten, es gab fünf Bars und einen Weinberg. Das Leben war nicht leicht, aber es hat Spaß gemacht. Manchmal tanzten wir sogar.« Der Fischer erinnert sich, wie eines Tages der Pfarrer vom Schiff stieg und das Grammofon auf die Piazza neben der Kirche stellte. Im Nu war ganz Marettimo versammelt. »Und Giuseppe geht hin, guckt sich das Ding ganz genau an und sagt: Da ist einer drin, aber ich kann ihn nicht sehen.«
Auch heute tanzen sie manchmal. Im Scaletta, wenn es Nacht ist. Das Scaletta ist eine Mischung aus Bäckerei, Gelateria, Restaurant, Bar und Wohnzimmer mit Wanderpokal unter dem Fernseher. Hier tauschen sich Einheimische, Urlauber und Segelbesatzungen aus, hier sitzen mittags junge Männer und essen Eiscreme in Rosinenbrötchen oder Couscous vom Plastikteller, während sie die Meisterschaft im Slamball verfolgen, bei dem die Spieler auf Trampolinen nach den Basketballkörben springen. Sie bleiben dort, bis die Sonne weitergewandert ist, bis die alten Männer aus ihren Häusern kommen und sich in den ersten Schatten vor dem Lager mit den Fischernetzen setzen. Sie blicken aufs Meer und kommentieren jedes Boot, das in den Hafen hereinkommt. So wie vor fünfzig Jahren. Als gäbe es kein Fernsehen und keine Zeitung.
Still ist es zu Mittag in Marettimo. Doch wenn sich die Sonne dem Horizont nähert, wenn die Fischer ihre über Mittag geflickten Netze wieder zu den Booten bringen - auf kleinen, hölzernen Wagen, als wollten sie beweisen, wie weit der Weg und wie groß ihre Insel ist - dann kehrt das Leben zurück. Dann laufen die kleinen Signorinas, die in den Ferien kommen, wieder unter großen Strohhüten die Wege entlang und singen Lieder, während nicht weit entfernt Jungen ihre Kreisel auf dem Pflaster tanzen lassen. Je tiefer die Sonne sinkt, umso mehr Türen öffnen sich, umso mehr der blau-weißen Vorhänge wehen im Abendwind. Stühle werden auf die Straße gerückt, auf einem Tischchen plappert ein Radio, Kaffee wird serviert. Der Frisör, der einmal in der Woche vom Festland herüberkommt, um das Inselvolk zu rasieren und frisieren, lässt Locken auf die Straße fallen. Kinderwagen werden vor die Tür gerollt, Fahrräder sausen durch einen Parcours von zum Trocknen aufgehängten Dessous und Bikiniteilen, und als wäre es nicht eng genug, zwängt sich auch noch der dreirädrige »Express-Frutta« mit seinen Kartoffeln und Bananen durch die Gasse.
Es ist eines von drei motorisierten Fahrzeugen auf der Insel, die nur eine einzige automobiltaugliche Straße hat: die Straße zum Friedhof. Ansonsten verzeichnet die Karte vier Wanderwege: Hinauf zum fast 700 Meter hohen Berg, zum alten Kastell, das im Norden auf einem Felsen thront, zu einer römischen Ruine und zum südlichen Ende mit dem Strand. Marettimo ist klein wie Lummerland. Alles ist winzig hier, die Straßen, die Häuser, die Zimmer, aber es ist alles da: der Hafen, die Post, der Bäcker, der Metzger, der Lebensmittelladen, der Tabakladen mit Zigaretten, Liebesromanen, Rasierschaum, Postkarten und Lakritze. Da ist eine Schule, eine Kirche, ein Arzt, eine Piazza, eine Pizzeria, ein Eissalon, eine Polizeistation, ein Bankautomat und der Friedhof.
Und das Scaletta. Vor dem in lauen Nächten junge Italienerinnen sitzen, die verträumt auf den Hafen herunterschauen und ihre braunen Beine von der warmen Mauer baumeln lassen. Umstanden und begehrt von jungen Männern mit Cocktails in der Hand. Die meisten kommen von Sizilien, manche aus Rom, manche sogar aus dem fernen Mailand. Viele kennen sich schon, andere müssen sich erst noch kennenlernen. Da ist das Scaletta ideal.
Vor ein paar Stunden hat Giovanni hier sein Fünfgängemenü serviert. Seit der englische Starkoch Jamie Oliver in der Sendung Great Italian Escape dem kochenden Wirt über die Schulter schaute, ist das Scaletta erste kulinarische Adresse für Urlauber. Nach Mitternacht aber sind die Tischdecken wieder verschwunden, Giovanni lacht laut wie zwei und trinkt für drei. Die Stimmung ist gut, ein paar Takte Musik, und schon tanzen sie, die Fremden und die Einheimischen. Lange manchmal, die halbe Nacht. Ein bisschen ist es dann wie damals mit dem Grammofon.
Wenn Giovanni die Lichter ausmacht, ziehen Paare Arm in Arm durch die warmen Straßen, hinaus auf die lange Mole. Vorbei am Museo del Mare, wo ein paar alte Zeitungsausschnitte und Fotografien, Reusen und ein kupferner Taucherhelm an Zeiten erinnern, als das Leben noch abenteuerlicher war, als sie alle noch auf San Francesco angewiesen waren, den Schutzpatron der Seefahrer. In einem Schrein neben dem Museum steht seine Figur, und darunter ein Datum. Der 26. April 1870, ein großer Tag für die kleine Insel: Nie zuvor hatten die Fischer so viel Fisch gefangen.
Aber es gibt noch eine zweite, etwas weltgewandtere Gedenktafel im Ort. Sie erinnert an Samuel Butler, der Marettimo für die Heimat des größten Seefahrers aller Zeiten hielt. 1894 suchte der Homer-Übersetzer auf der Insel nach Beweisen für seine These, und einen Moment lang sah es aus, als könne Marettimo von der Abgeschiedenheit erlöst werden. Aber Butler war ein stürmischer Querdenker, und er verlegte nicht nur Odysseus’ Geburtsort nach Marettimo, sondern stellte darüber hinaus die These auf, dass Homer eine Frau gewesen sein müsse. Butlers Theorien fanden nur wenige Anhänger.
So ging die große Geschichte immer knapp an der Insel vorbei. Auch die Touristen haben daran nichts geändert. Große Hotels durften nie gebaut werden, Wald, Tiere, das Meer und die Fische stehen unter Schutz. Offiziell gibt es kaum Zimmer. Dennoch sollen in den besten Jahren 1000 Gäste hier Quartier gefunden haben. Sogar die gute Stube mit dem Foto der Großeltern über dem Diwan bieten die Insulaner, so wird erzählt, im Notfall den Gästen an. Fremde fühlen sich in dieser überschaubaren Welt schon nach wenigen Stunden heimisch.
Das muss auch Marisa so gegangen sein, »Marisa di Bologna!« Michele Maiorana klopft sich auf die Schenkel vor Freude. »1956 war das, ich weiß es noch genau, wie sie hier ankam.« Marisa war Lehrerin, sie wollte die Insel studieren. »Es gefiel ihr so gut bei uns, dass sie jeden Sommer wiederkehrte.« Seit zwei Jahren ist sie nun ausgeblieben, keiner weiß, was aus ihr geworden ist. Vielleicht steht der Stein, den sie ihr schenkten, jetzt in einem staubigen Altersheim in Bologna. Der Stein, den sie vom Grund des Meeres geholt hatten, in den sie einige wenige, aber dankbare Worte graviert hatten und den sie ihr 1991 so feierlich überreichten. »Der Marisa aus Bologna, der ersten Touristin von Marettimo.«
Anreise: Ryanair, Easy Jet und Air Berlin fliegen günstig nach Palermo. Der Bus nach Trapani verkehrt stündlich, kostet 7 Euro und braucht 2 Stunden. Die letzte Fähre von Trapani geht um 17 Uhr und kostet 15 Euro
Unterkunft: Sehr zu empfehlen ist die Pension La Terrazza (Via Guglielmo Pepe 24,Tel. 0039-3687681571) mit ihrer hübschen Dachterrasse und dem Blick übers Dorf. Die Zimmer kosten zwischen 40 und 70 Euro; ebenfalls klein und fein ist die Zimmer- und Apartmentvermietung Rosa dei Venti, Via Punta S. Simone, 4, Tel. 0039-0923/923249
Mit vier Sternen schmückt sich die Marettimo Residence (Via Telegrafo, 3, Tel. 0039-0923/923202, www.marettimoresidence.it) am südlichen Ende des Ortes. Das Doppelzimmer gibt es ab 65 Euro
Auskunft: Italienische Zentrale für Tourismus, Tel. 069/237434, www. enit.de
Die Zeit - Nr.35/23.08.2007
© Hans W. Korfmann
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