Marina und Christina
Eigentlich hätten die vereinzelten Dörfer zwischen den Felsen am Meer aussterben sollen. Zu umständlich und waghalsig waren die staubigen Schotterwege, die zu den unbedeutenden Ansiedlungen an der steilen Südküste führten. Die Menschen flüchteten in den Norden mit den Asphaltstraßen und den Flughäfen. Doch dann kamen die Hippies und bezogen ihre kostenlose Quartiere in den Höhlen von Matala und Wanderer kletterten mit ihren alternativen Reiseführern in der Hand über die Berge. Sie kommen jetzt jedes Jahr, die Touristen, regelmäßig wie die Fischschwärme.
Die neuzeitlichen Höhlenmenschen kamen damals auch nach Lentas. Zuerst betraten sie die Taverne von Elpida, die den Fischern im Sommer Fleisch in der Pfanne briet und im Licht der Petroleumlampe Wein und Brot auf den Tisch stellte. Sie ist heute eine dicke, alte Frau mit einer dikken, alten Warze auf der Backe, die in dicken, schwarzen Wollsocken zwischen den Tischen mit den blaukarierten Tischdecken hindurchwatschelt und aufs Meer hinaus blickt aus Gewohnheit, und ohne noch irgendetwas von dort zu erwarten. Niemand erwartet noch etwas von dort, alle blicken jetzt zur Straße hinauf. Alle leben jetzt von den Fremden: die Hotelbesitzer, der Busfahrer, der Taxichauffeur, und die Ladenbestizer.
Früher hatte Lentas einen Laden. Heute hat es drei: Das Souvenirgeschäft mit Postkarten, Sonnenbrillen, phallusartigen Kerzen und Miniaturamphoren, und die beiden Läden von Marina und Christina. Einander gegenüber. „Ich“, sagt abends in der Taverne von Jorgos ein deutscher Senior, der mit bayrischem Akzent seinen Raki bestellt, „würde doch hier irgendetwas neues, eine Tanzschule oder einen OdysseusErlebnispark einrichten mit einem Polyphem, der jeden Morgen aus einer der Höhlen tritt, um die Kinder zu erschrecken, und einem Odysseus, den es jeden Abend neu ans Gestade spült, für die Urlauberinnen. Aber diese Idioten eröffnen gleich zwei Läden für die paar Leute, die es daher verschlägt. Der eine direkt gegenüber vom andern!“ Der Bayer schimpft über die Griechen, er darf das, er ist seit 13 Jahren hier.
Andere betrachten die Gastgeber gnädiger. Das sei eben griechisch, erklärt der Frankfurter, „Hier macht Jannis seine Tankstelle neben Jorgos und Nikos seine Konditorei neben Kostas auf!“ Der Wortführer einer sechsköpfigen Schweizer Delegation erhebt bedeutungsvoll den Kotelettknochen: „Das liegt an den Bazaren. Da haben sie sich immer nach der Profession geordnet: Die Schuster waren in der einen Gasse, die Sattler in der nächsten, und irgendwo dazwischen die Huren!“ Das war praktisch. Die Handwerker konnten sich mit Rat und Tat und Leder und Hanf aushelfen, und die Kunden wußten, wo sie die richtigen Schuhe oder das richtige Mädchen finden würden.
In den Läden von Lentas ist das Angebot weniger vielfältig. Bei Marina und Christina gibt es die gleichen Artikel zu den gleichen Preisen: Windeln, Binden, Slipeinlagen, Zahnpasta und Zahnbürsten, Rasierschaum und Rasierer, Waschpulver und Spülmittel, Butter und Brot, Nutella und Eiscreme, Kekse und Bohnenkaffee – die Lebenselixiere des Nordwesteuropäers. Alles das, was in Berlin oder München so alltäglich ist und hier unten in Lentas die Preise seltener Raritäten erzielt. „Es hat ja keinen Sinn, wenn ich hier Schnecken verkaufe. Die wollen das, was es auch im deutschen Supermarkt gibt, und dazu Retsina und das Meer!“
Auch die Öffnungszeiten der beiden Kauffrauen unterscheiden sich nicht voneinander. Sogar sonntags warten Marina und Christina auf Kundschaft, manchmal bis nachts um zwölf. Natürlich machten die stets intelligenteren griechischen Männer den konkurrierenden Frauen einige Vorschläge zur Verbesserung ihrer komplizierten Lebenslage. „Warum macht nicht Marina die eine Woche vormittags auf, und du dafür nachmittags. Und die nächste Woche umgekehrt?“ – Dann macht Christina ein besorgtes Gesicht, blickt zum Himmel und sagt: „Es gibt Kunden, die kommen nur zu mir oder nur zu Marina!“ – Marina sagt: „Ich habe Christina ja schon vorgeschlagen, abends um acht das Licht auszudrehen, damit wir wenigstens noch kochen und waschen können. Sie war auch einverstanden, aber dann sehe ich sie bis nachts um zwölf im Laden sitzen!“ –
Nein, die Griechinnen haben es nicht leicht! Besonders in den befürchteten Flauten, wenn der Busfahrer kaum noch Fremde ins Dorf bringt. Dann spähen Marina und Christina ebenso wie die Tavernenbesitzer und die Zimmervermieter nach jedem neuen Gesicht aus, und wenn irgendein Einheimischer auf der Straße am Berg ein winziges Grüppchen von Wanderern entdeckt, dann macht die Kunde schnell die Runde: „ Oben bei der Kreuzung sind sechs Stück! Beladen wie die Esel!“ Wenn die Wanderer dann den Ort betreten, sind alle auf ihren Posten, die Restaurantbesitzer, die Zimmervermieter, sogar der Taxifahrer – für den Fall, daß die Fremden wieder fort wollen.
Auch Marina und Christina sind dann voller Hoffnung. Manchmal bleibt einer der neuen Gäste unschlüssig vor den beiden Läden stehen und blickt nach links und dann wieder nach rechts, studiert die linke Eistruhe und die rechte, den linken Obststand und den rechten. Für Marina und Christina ist das ein spannender, wenn nicht entscheidender Moment. Denn oft bleibt ein Gast zwei Wochen, und aller Wahrscheinlichkeit nach wird er in diesen zwei Wochen jenem Laden die Treue halten, den er in diesem Moment auswählt. Aus Gewohnheit. Gerade der Urlauber braucht seine Gewohnheiten, er sagt dann: „Ich geh mal zu Christina Retsina holen!“, oder „Ich geh mal zu Marina zwei „Amstel“ holen.“ Dann fühlt er sich auch in der Fremde wie Zuhause.
Besonders spannend wird es, wenn eine Kleinfamilie die Szene betritt. Das ist, als tauche ein riesiger Schwertfisch zwischen zwei kleinen Barken auf, und beide Fischerinnen werfen die Angel aus. Marina ködert mit großen Lettern über der Tür und nennt ihren Laden Supermarkt, während Christina mit zwei Schildern arbeitet: Schon in einiger Entfernung weist ein mächtiger Pfeil den Gästen unmißverständlich den Weg, während am Eingang ein unschuldig blümchenverziertes Schildchen lockt.
Doch nicht alle bleiben, einmal ins Netz gegangen, Marina oder Christina treu. Es gibt einige Touristen, die heute hier und morgen dort einkaufen. Nach unergründlichen Gesetzmäßigkeiten. Marina und Christina sagen, daß sie das niemandem übelnehmen, jeder könne einkaufen, wo er wolle. Marina blicke auch nicht neidisch zu Christina hinüber oder umgekehrt. Marina könnte das rein theoretisch. Denn obwohl die beiden Nachbarinnen, wenn sie vor ihren Kassen sitzen, einander den Rücken zugewendet haben und die eine nach Osten und die andere nach Westen blickt, hat Marina den Vorteil, schon mit einer 45GradDrehung durch ihr Fensterchen das Geschehen gegenüber beobachten zu können. Christina dagegen hat kein Guckloch zur Konkurrenz, sie hat sozusagen das Nachsehen und erkennt die verlorene Kundschaft erst dann, wenn die mit ihren berühmten blauen Plastiktüten wieder die Straße hinunterläuft. Doch das ist selten, denn die Touristen tendieren ganz offensichtlich nach rechts. Sie halten sich auch im anarchischen Straßenverkehr eines griechischen Kleindorfes streng an die deutsche Straßenverkehrsordnung und biegen, wenn sie wegen eines Eis am Stiel vom Meer heraufkommen, meist rechts ab zu Christina.
Christina kann nichts dafür. Sie spricht das nicht aus, sie hebt nur leicht die Schultern und verdreht die Augäpfel ein Stück Richtung Himmel. Das alles liegt in Gottes Hand, der bekanntlich unfehlbar ist. Und selbst wenn er Christina vielleicht ein bißchen bevorzugte – sie hätte es verdient! Denn schließlich gibt es Christinas Laden seit 35 Jahren, ihr Schwiegervater hat schon damals den Langhaarigen Zigaretten und Schokolade verkauft. Marina sieht das anders. Marina sagt, sie sei die erste gewesen. Denn als Marina sich entschloß, einen Laden zu eröffnen, da war der Schwiegervater Christinas gerade gestorben und das Geschäft geschlossen. Christina hätte erst wieder eröffnet, als sie sah, daß Marina Geschäfte machte mit ihrem Geschäft.
Doch im Grunde halten die Beiden zusammen und teilen auch das Wenige. Feindschaft ist aus der Konkurrenz keine geworden,, „nein, nein, wir reden miteinander“, beteuern Marina und Christina aus einem Mund, und meinen damit, daß sie einander freundlich grüßen. In der Kirche zum Beispiel, Ostern oder Weihnachten.
Auch jene, die gerade in Lentas angekommen sind, begrüßen Marina und Christina mit ausgesuchter Höflichkeit. Dann kramen sie ihre Fremdsprachenkenntnisse aus, plaudern über Dinge, die sie kaum interessieren, nämlich über das Wetter, das sowieso immer gleich ist, und das Meer, das auch immer gleich ist – und suchen ständig noch nach Sesamkringeln oder anderen kleinen Präsenten. Die meisten Kunden empfinden das als nette Geste. Doch wehe dem Urlauber, der ein Kind hat.
Am Abend „bei Jorgos“ klagt eine österreichische Kleinfamilie dem Bayern mit den guten Ideen ihr Leid: „Um eine Flasche Wasser zu kaufen, brauchen wir etwa eine halbe Stunde, weil da immer gleich drei Griechinnen zusammenstehen und sich gegenseitig unsere Anna zureichen.“ Die Österreicher plaudern, als handele es sich um eine bereits weit zurückliegende Anekdote, und als läge ein beruhigender Abstand zwischen Wirklichkeit und Erzählung. Doch die beschriebenen Szenen sind erschreckend realitiätsnah. Jeder Fremde, der mit einem Baby im Arm auf eine kretische Ureinwohnerin trifft, wird zunächst von einem merkwürdigen Singsang und lautem Trällern empfangen. Anschließend folgt ein Totemtanz um das sichtlich erstaunte Kind, musikalisch untermalt von kleinen Seufzern und Jauchzern, sowie lautem Zungenschnalzen und heftigem Kopfwakkeln. Am Ende der Zeremonie wenden sich die griechischen Mütter mit guten Ratschlägen an die fremden Mütter: Nicht zu oft in die Sonne, schön warm anziehen, das Meer meiden und immer viel Milch geben!
„Das schlimmste ist, daß sie uns ständig etwas schenken“, erzählt der österreichische Kleinfamilienvater. Die vor ihren Souvlakis versammelten Gäste nicken wissend. „Angefangen hat es mit einem unverdächtigen Sesamkringel, den Christina aus der Schublade gezaubert hat. Der soll dem Baby beim Durchbruch der Zähne helfen. Am nächsten Tag schenkt uns Marina fünf Eier – fürs Kind. Frisch, von den eigenen Hühnern. Christina dagegen favorisiert Bananen, die kann Anna schon alleine essen, das fördert die Intelligenz. Und packt drei Bananen in die Tüte. Von hier, aus Kreta.“Der Wiener zeigt ein Feuerzeug, darauf die Umrisse der schönsten Insel der Welt: „Damit wir Kreta nicht vergessen und nächstes Jahr wiederkommen“.
In den folgenden Tagen berichtet der Kleinfamilienvater von selbstgebackenem Kuchen, einem Kartenspiel, zwei Kugelschreibern, von einer Plastikflasche hausgemachten Weines, den Christina mit bedeutungsvoller Geste überreicht habe, und davon, wie Marina sich nicht habe lumpen lassen und anderntags mit einer ähnlich großen Flasche selbstgebrannten Schnapses aufgewartet habe. „Wenn nicht bald Schluß ist, dann komme ich noch mit einem neuen Fernseher nachhause“, resümiert abends der gutgelaunte Österreicher.
Doch in der dritten Woche sieht man den jungen Vater vom Leid gebeugt. Immer häufiger schleicht er in geduckter Haltung an Christinas oder Marinas Laden vorüber. „Ich hätte nie gedacht, daß Kekse und Bananen so schwer im Magen liegen können“. Da kommt dem Bayer die rettende Idee. „ Das ist doch ganz einfach: Mutter kauft bei Christina, Vater bei Marina!“ Und tatsächlich: Marina und Christina scheinen sich nach anfänglichem Mißtrauen mit der Lösung anzufreunden. Abgesehen von einem trockenen Keks oder einer knautschigen Banane bleiben die Werbegeschenke aus. Befreit von der Gewissenslast findet der Wiener wieder zum aufrechten Gang zurück.
Bis zum Tag der Abreise. So tief gebeugt hat man den Österreicher noch nicht gesehen. „Nein, nein,“ währt der junge Vater ab, „Is scho alles OK! Nur der Kanister! Jetzt hams mir 5 Liter frisch gepreßtes Olivenöl geschenkt! Von den eigenen Bäumen. Das Beste Öl der Welt. Fünf Liter!“
Marina und Christina stehn zum Abschied winkend und lächelnd am Straßenrand. Sie wissen: Die werden wiederkommen. Auch, wenn es manchmal schwierig war mit den beiden Ladenbesitzerinnen. Aber Zuhause werden sie von Marina und Christina so oft erzählen, bis es eine ihrer schönsten Geschichten ist.
Der Tagesspiegel - 20.10.2002
© Hans W. Korfmann
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