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Da tanzt das Pferd

Die Kapelle spielt, es fließt der Gin. Zu den Reiterspielen ist ganz Menorca Tag und Nacht auf den Beinen

Die höchste Erhebung Menorcas ist gerade mal 357 Meter hoch und heißt El Toro. Mit einem Stier jedoch soll der Name nichts zu tun haben. Etymologen sagen, dass er auf das maurisch-arabische Wort althor zurückgehe, was so viel wie »Gipfel« bedeute. Mit der Stierliebe der Menorquiner ist es auch nicht so weit her. Ihr Stier ist das Pferd.

Elfmal im Lauf des Sommers zeigen die Reiter der Insel ihre Rappen und ihr Geschick. Der sommerliche Reigen beginnt in Ciutadella in der Johannisnacht. Zwei Tage lang wird das Städtchen zum Mittelpunkt der Balearen. 100000 Besucher sollen beim letzten Mal hier gewesen sein. Auf alten Fotografien, die in den Bars hängen, sind die Zuschauergrüppchen in den Gassen noch klein, die Begeisterung schien sich in Grenzen zu halten. Heute aber stellen die Bewohner schon einen Tag vor dem Fest Tabletts mit Mandelgebäck und Schnaps vor ihre Türen und laden jeden ein, der vorbeikommt. Später in der Nacht aber verbarrikadieren sie die Fenster mit Holzbalken, damit sie dem Ansturm der Massen standhalten.

Schon früh am nächsten Morgen herrscht Unruhe in der Stadt. Die Bars und Cafés auf dem kleinen Platz vor der Kathedrale und in den schmalen Straßen um ihn herum sind voller Menschen. Sie kommen Stunden zu früh, nur um die Ankunft der Tiere nicht zu verpassen. Trinkend warten sie darauf, dass die Turmuhr endlich zwölf schlägt. Dann endlich erscheint ein grauer, langohriger Esel. Auf ihm sitzt der Fabioler, der Flötenspieler. Er bahnt sich einen Weg zum Haus des Adligen, des Caixer Señor, begleitet vom Jubel der Schaulustigen, die sich in den Straßen drängen, an den Fenstern hängen und die winzigen Balkone wie Theaterlogen besetzen. Kinder mit roten Halstüchern sitzen auf den Schultern ihrer Väter, um den Esel zu sehen, junge Frauen in roten T-Shirts auf den Schultern ihrer Männer, um besser gesehen zu werden. Rote Luftballons steigen auf, rote Fahnen wehen, rot sind die Cowboyhüte. Alles steht im Zeichen von Sant Joan. Es ist heiß, man trinkt Pomada aus großen Plastikflaschen, ein Gemisch aus Limonade, Eiswürfeln und dem einheimischen Gin. Es ist erst Mittag, doch längst sind die Menschen berauscht – vor Erwartung und von der Pomada. Noch bevor der Flötenspieler das Haus des Adligen wieder verlässt und der wartenden Menge verkündet, dass die Spiele eröffnet sind, noch bevor er aufbricht, um alle übrigen 191 Reiter mit ihren Rappen abzuholen, haben sich die ersten der Feiernden schon in die letzten Schattenflecken zum Schlafen niedergelegt.

Ruhe liegt über der Landschaft. Der Mistral streift durch die Kornfelder

Weshalb es ein Esel ist, auf dem der Flötenspieler die Reiter anführt, kann niemand mehr genau sagen. Die Papiere, die Aufschluss über den Ursprung der Reiterfeste hätten geben könnten, verbrannten 1558 während eines Angriffs der Osmanen. Die Parade soll ihre Wurzeln im 14. Jahrhundert haben und eine alljährliche Demonstration militärischer Reitkunst gewesen sein. Menorca war in der Vergangenheit hart umkämpft. Die gigantische Bucht vor dem Städtchen Mahón war die Trumpfkarte im Spiel um die Vorherrschaft im westlichen Mittelmeer. Ganze Flotten konnten im zweitgrößten Naturhafen der Welt überwintern, weshalb Piraten die Insel ebenso überfielen wie die Römer, die Osmanen, Spanier, Engländer und Franzosen.

Ständig wechselten die Herren, doch die meisten Spuren hinterließen die Briten. Nach ihrer Landung im Jahre 1708 errichteten sie zuerst ein Fort, gewidmet Sir John Churchill, dem ersten Duke of Marlborough. Dann aber dachten sie an das Vergnügen und bauten zwei Hippodrome, auf deren Tribünen die englischen Damen ihre riesigen Hüte präsentieren durften und die Männer ihr Geld auf Pferde setzten. Zudem kümmerte sich Richard Kane, der erste Gouverneur der Insel, um den Anbau von Äpfeln, die Viehzucht und den Verkehr. Er ließ einen Weg anlegen, auf dem die Reiter von Fort Marlborough weit in den wilden Westen galoppieren konnten und der noch heute als Cami d’en Kane verzeichnet ist. Die Franzosen dagegen hinterließen nur eine einzige Siedlung auf Menorca, erbeuteten jedoch das Rezept einer Sauce, die sie in den Gassen Mahóns lieben gelernt hatten. Von Frankreich aus eroberte diese mahonnaise dann die Welt.

So viele Herrscher auch kamen und gingen, das Leben auf Menorca hat sich kaum verändert. Auch als in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf anderen Baleareninseln Hotels entstanden, blieb die kleine Schwester Mallorcas seltsam unberührt. Noch immer widmeten sich ihre Bewohner der Landwirtschaft und nähten Autoreifenstücke und Lederstreifen zu Sandalen zusammen, die sie nach Italien verkauften.

Ganz freiwillig allerdings haben sich die Schuster und Rinderhirten dem Fortschritt nicht verweigert. Es war Franco, der das Inselchen von seinen Wirtschaftsprogrammen ausschloss, da sich die dickschädeligen Insulaner stets geschlossen gegen den Diktator gestellt hatten. Letztlich ist es seiner Strafmaßnahme zu danken, dass die Tiere noch heute so friedlich wie damals im Schatten der Olivenbäumchen dösen, die wie zu groß geratenes Gestrüpp unter den hoch oben aufgespannten Schirmen der Kiefern wachsen. Dass die kleinen Herden noch in all ihrer Gemütsruhe kauend und wiederkäuend über die hügelige Weidelandschaft ziehen, dieses Geflecht aus grünen Quadraten, Dreiecken, Rechtecken, die von weißen Feldsteinmauern eingefasst sind. Sie überziehen ganz Menorca: Grenzmarkierungen aus losem Geröll, gewachsen in Jahrhunderten, Stein für Stein, Lage für Lage, mit jeder Furche, die der Pflug in den Acker grub, 15000 Kilometer insgesamt!

Es ist lange her, dass die hohen Berge Menorcas zu einer Mittelgebirgslandschaft zerbröselten, doch noch immer sind die Bauern damit beschäftigt, den Schutt aus den Tälern zu tragen, die Steine an den Wegesrändern zu mannshohen Mauern zu stapeln und mit kreisrunden Steinwällen kleine Höfe um ihre Feigen- und Maulbeerbäume anzulegen. Ihre Vorfahren haben sie noch zu Türmen aufgeschichtet, von denen aus sie feindliche Schiffe bewarfen. So kamen die Balearen zu ihrem Namen: Inseln der Steinschleuderer.

Ruhe liegt über der Landschaft, der Mistral streift durch die blonden Kornfelder und die schwarzen Mähnen der menorquinischen Pferde. Sie sind die Nachfahren eines schwarzen Wildpferdes, das sich mit den Vollblütern der Einwanderer einließ, um ein bisschen vom arabischen Temperament, von der englischen Disziplin und dem französischen Stil abzubekommen. Heute ist der Menorquín ein schnelles, aber trittsicheres, ein elegantes, aber starkes, ein feuriges, aber behutsames Reittier. Bestens geeignet für die Reiterfeste Menorcas und für den Cami de Cavalls, den Weg der Reiter, der bereits im 15. Jahrhundert rund um die Insel geführt haben soll.

Kilometerweit entfernt von der einzigen nennenswerten Straße in der Mitte der Insel, führt der »Weg der Reiter« stellenweise bis hinunter ans Meer mit seinen leisen Stränden. Vorbei an alten Pferdeställen mit ihren Mistgabeln, Katzen und Fliegen, vorbei am Leuchtturm von Cap d’Artrutx und an der Ila del Rei in der Hafenbucht von Mahón, auf der Kane ein gewaltiges Krankenhaus für seine Soldaten errichtet hat. Die englischen Seefahrer nannten das Inselchen bloody island und erzählten, dass die Ärzte mit den amputierten Körperteilen die Haie fütterten.

Wie die Festung von Marlborough entstand auch der Cami de Cavalls, der heute als Wander- und Reitweg ausgeschildert ist, aus der Furcht vor Angreifern. Ständig spähten die berittenen Patrouillen aufs Meer. Selbst die Pferde sollen sich angesichts feindlicher Schiffe auf die Hinterbeine gestellt haben und erhobenen Hauptes auf die Feinde zugelaufen sein. Der Legende nach sind sie den Männern auf See wie Ungeheuer erschienen.

Auf Menorca fehlen die aufrechten Rappen bei keinem Fest. Begleitet von den Trompeten, Posaunen und Trommeln einer Blaskapelle, die auf dem Platz vor dem Rathaus immer wieder dasselbe Lied spielt, reitet die ständig wachsende Pferdeschar am Nachmittag des ersten Festtages durch die Straßen. Dreimal kommen die Reiter auf ihrer Runde an der Tribüne vorbei, jedes Mal festlich empfangen von einer jubelnden Menge. Am Abend, auf ihrer letzten Runde, sind auch die Müden vom Mittag auf den Beinen und stehen an den Ständen mit Pomada, Bier und Wein. Gegenüber dem Rathaus quellen Kinder aus den vielen Fenstern des Palao de Torresaura, und auf dem großen Balkon stehen die geladenen Damen mit Sektgläsern in der einen und Fächern in der anderen Hand, während die Herren mit Zigarren im Mundwinkel die Parade kommentieren.

Das Fest hat seinen ersten Höhepunkt erreicht. Und immer wenn die Kapelle den langen und hohen Ton anstimmt, reißen die Menschen die Arme in die Höhe, kitzeln die Reiter ihre Pferde heimlich mit den Stiefeln, stellen sich die Rappen auf die Hinterbeine, als nahte wieder eine feindliche Flotte. Junge Männer springen unter die Pferde und greifen sie bei den erhobenen Vorderläufen, und je länger die Pferde aufrecht bleiben, umso lauter wird das Geschrei der Menge. Jaleo nennen die Spanier diesen Tanz von Mensch und Tier, und sie tanzen ihn die halbe Nacht, während die Kapelle immer wieder das eine Lied spielt, bis lange nach Mitternacht die Reiter die Stadt verlassen, um die letzten noch fehlenden Bauern aus entfernten Dörfern zu holen.

Die Reiter umarmen sich im gestreckten Galopp

Am zweiten Abend des Festes versammeln sich die Protagonisten zu den Reiterspielen in einer sandigen Arena am Ende des Hafens von Ciutadella. Alle sind gekommen: der Caixer Señor mit seinen weißen Hosen und den weißen Handschuhen als Vertreter des Adels, je ein berittener Repräsentant der Kirche und des Handwerks und die 189 schwarz gekleideten Reiter der Bauern. Abertausende Zuschauer belagern die Bühnen und die steilen Treppen und Wege, die vom Hafen in die Stadt hinaufführen, um die Lanzenkämpfe, die Wettläufe und die Umarmung zweier Reiter im gestreckten Galopp zu sehen. Auch unten auf dem Platz stehen sie dicht gedrängt, um ganz nah dabei zu sein, wenn die Musik wieder einsetzt und der Tanz von Pferd und Mensch aufs Neue beginnt.

Kameramänner übertragen die Bilder ins Fernsehen, theatralisch glänzen die schwarzen Tiere im Scheinwerferlicht, Mädchen kichern in vorgehaltene Mikrofone, und junge Männer beweisen ihren Mut, indem sie sich den heransprengenden Reitern in den Weg stellen, damit die Pferde sich aufbäumen. Weniger Kühne versuchen zumindest, die langmähnigen Stars des Abends zu berühren. Das soll Glück bringen. Tatsächlich heißt es, dass bei den Fiestas noch nie jemand ernsthaft zu Schaden gekommen sei, dass die menorquinischen Pferde und ihre Reiter auch im dichtesten Tumult die Ruhe bewahrten.

Einige Tage später erwartet man die Pferde in einem anderen Ort, zum nächsten Fest. Sie werden den alten Weg des Gouverneurs Kane entlangreiten, nach Ferreries und Es Mercadal. Wieder wird eine Kapelle dasselbe alte Lied spielen, bis dann am 7. September in Mahón der elfte und letzte Tanz der Pferde und das letzte große Abschlussfeuerwerk den Winter einläuten. Einen Winter, in dem die Bauernsöhne Menorcas wie von jeher an den nächsten Sommer denken, an die Pferde, die Pomada, die jungen Mädchen und das nicht endende Lied des Jaleo.

Das nächste Reiterfest, das Sankt-Bartholomäus-Fest, findet am 24. und 25. August in Ferreries statt. Das letzte Fest am 7. und 8. September in Mahón

Die Zeit - #33 / 07.08.2008
© Hans W. Korfmann

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