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Der Märtyrer ist kein Exhibitionist

Die unglaubliche Geschichte des Klosters Agios Raphael und seiner Äbtissin Evgenia Kleidara / Von Hans W. Korfmann

Es ist Karfreitag. In Mytilini, der Hauptstadt der Insel, singen die Popen auf allen Kanälen, in jedem Wohnzimmer, an jedem Zigarettenstand. Im Fernseher des Kafenions am alten Hafen küssen die Blondinen der griechischen Soap Operas keine schwarzäugigen Frauenhelden mehr, sondern Grauhaarige und Gebückte küssen Kreuze und Ikonen in den Live-Übertragungen der Gottesdienste. Die Männer vor ihren Ouzo-Gläsern reden über die österlichen Wucherpreise: "Neun Euro für das Kilo Lamm und drei Euro die Tomaten, heilige Jungfrau." "Nach Ostern kostet dann alles die Hälfte", sagt die Frau hinter dem Tresen, die Baguettes mit Salami im Akkord belegt. Am Abend wird es voll werden auf der Straße, am Abend wird Christus zu Grabe getragen, da versammelt sich halb Lesbos in der Hafenstadt Mytilini.

In das Hotel unweit des Stadtzentrums ist eine Schar plappernder Pilger eingefallen. Es sind Festlandgriechen, die Ostern auf der Insel feiern wollen. Sie klopfen gegenseitig an ihre Türen, stehen quasselnd auf den Balkonen und loben die großartige Aussicht, die so großartig nicht ist. Im Garten des Hotels läuft das letzte Wasser in den Swimmingpool, an der Rezeption drängen sich die Gäste, die Taxifahrer machen wieder Geschäfte. Es ist, als würde am Sonntag mit Christus auch die Insel vom Winterschlaf auferstehen.

 
Mytilini
Auf Lesbos geschehen Wunder und Zeichen. Wer nicht daran glaubt, sollte zu Ostern auf die Insel
kommen - und darüber staunen, was Glaube bewirken kann. Foto:Hans W. Korfmann

Die neuzeitlichen Pilgerinnen mit ihren neuen Frisuren kommen aus dem ganzen Land, auch Exilgriechinnen mit einem gesteigerten Sinn für Folklore sind angereist. Die meisten von ihnen haben schon von Agios Raphael gehört. Das Kloster hat es innerhalb weniger Jahre auf Platz drei der populärsten Pilgerziele Griechenlands gebracht. Wer Sorgen hat, wer krank ist, der muß nach Agios Raphael. Das Kloster ist der Höhepunkt am Ende des fünftägigen Programms der Exilgriechen.

"Mag sein, daß sie diese Geschichte von Raphael ausgeschmückt haben", sagt Herr Christopoulos. Er kennt sich aus bei Mythen und Legenden, auch die Namen der großen französischen und russischen Romanciers kennt er alle. Einen Moment lang scheint es, als würde es ein bißchen heller in seiner engen, mit Schreibpapier, Notizblöcken, Schulheften, Malblöcken, Formularen, Stiften, Radiergummis, Kartons und Pappe und Büchern bis unter die Decke vollgestopften Papierwarenhandlung. Er zieht ein Buch aus dem Regal, er findet es gleich, "es kommen ja immer wieder Leute, die danach fragen". Es ist ein Buch der Äbtissin Evgenia Kleidara über "Die historischen Tatsachen des Klosters Agios Raphael". Doch es ist voller Wunder und Legenden. "Bestimmt haben sie vieles dazugedichtet, so sind die Menschen", sagt Christopoulos, "aber schließlich hat man ja etwas gefunden da oben."

Es ist Karfreitag, kurz vor Ladenschluß, die Friseure kehren die letzten Haare auf die Straße, überall im Land werden jetzt die Läden geschlossen und öffnen erst wieder am Dienstag. Nur in Mytilini nicht. Da bleiben die Ladentüren auch am Dienstag noch verschlossen. Denn an einem Dienstag nach Ostern haben die Türken einen Mönch namens Raphael kopfüber an einen Baum gehängt, ihm zuerst den Kiefer und dann den Kopf abgeschlagen. Der Tochter des Bürgermeisters, einem zwölf Jahre alten Mädchen, schlugen sie die Hände ab und verbrannten sie bei lebendigem Leib in einem Tonkrug. Auch Nikolaos, der Freund Raphaels, entging dem Tod nicht. Doch einer der drei Toten, Raphael, war ein unruhiger Geist. Er konnte sich mit der ewigen Ruhe nicht abfinden und suchte die Menschen nachts in ihren Träumen auf. Die Bewohner von Thermi, einem Dorf in der Nähe des Tatortes, schliefen schlecht. Ende der fünfziger Jahre erschien er gleich bei mehreren Thermioten und machte genaue Angaben zu seiner Person, seinem Leben und über den Ort, an dem seine Gebeine zu finden seien.

Entnervt begann man an den bezeichneten Stellen zu graben, der Träume und der Kapelle wegen, die man zu errichten gedachte, damit endlich wieder Ruhe und Frieden einkehre im Dorf. Tatsächlich stieß man im September 1959 auf ein Grab. Neben einem Schädel, knapp dreißig Zentimeter entfernt, lag einsam ein Unterkiefer. Der Bischof kam, die Archäologen kamen, die Bürger von Thermi, Menschen von überall. Das Wunder war geschehen, und als man im folgenden Jahr auch Nikolaos und die im Tonkrug verbrannte Irini entdeckte, war die Sensation perfekt.

Am 12. September 1962 erhält der Bischof von Lesbos die Erlaubnis, an der Fundstelle ein Frauenkloster namens Agios Raphael zu errichten. Zur Äbtissin wird Evgenia Kleidara berufen. Eine Nonne, die selbst auf der fernen Insel Chios bereits vom heiligen Raphael geträumt haben soll. Heute verfügt das Kloster über mehrere Gebäude mit mehreren hundert Betten, die meisten davon in einem Gästehaus mit Parkplatz auf dem Dach. Im Sommer, so sagt man, seien die harten Pritschen für die Pilger alle belegt. Am Dienstag nach Ostern sowieso.

Kaum ist die Sonne aufgegangen, rollt der erste Bus die frisch asphaltierte Straße zum Kloster hinauf. An der Treppe lassen die Lahmen ihre Rollstühle stehen und quälen sich die Stufen hinauf. Frauen haben Stühle neben den Sarkophag gestellt, legen den Kopf auf die kalte Platte und schlingen den Arm um das Grab, als wollten sie einen Geliebten zurückhalten. Kinder erzählen, sie hätten gehört, wie sich im Sarg etwas bewegt habe. Auch die Männer mit Otto Rehhagel auf dem T-Shirt schlagen das Kreuz. Und die Frauen in spitzen Schuhen, die eben noch zwitschernd unter dem Abbild des Heiligen fürs Fotoalbum posierten, verfallen urplötzlich in stumme Andacht. Raphael ist hier der einzige Star.

Auch die Pilgerschar aus dem Hotel darf endlich ihre Kerzen in der überfüllten Kirche anzünden. Hastig schreiben sie ihre Bitten auf Papierchen, schreiben Arthritis, Rheuma, Asthma, Zucker. Erregt reichen sie ihre Wunschzettel, versehen mit einem kleinen Obolus, einer Nonne, die sie mit stoischer Gelassenheit in Raphaels Briefkasten wirft. Dann statten die Pilgerinnen der kleinen Irini in ihrem Tonkrug einen Besuch ab und staunen beim Anblick der vielen Krücken. Sie sind von all jenen zurückgelassen worden, die plötzlich wieder laufen konnten.

Im Hof drängt sich noch mehr Volk. Denn dort befindet sich der Buchladen. Dort gibt es nur eines: die Werke der Äbtissin Evgenia Kleidara. Fast hundertfünfzig Bücher habe sie geschrieben, sagt die Nonne, die durch ein kleines Fenster heilige Schriften reicht und Geld entgegennimmt. Ihr asketisch weißes Gesicht, theatralisch vom schwarzen Kopftuch umrahmt, lächelt und sagt: "Und sie schreibt noch immer, jeden Tag. Das ist die Kraft Gottes."

Die Karriere der Autorin Kleidara begann mit einem Gedichtband, dem später Prosawerke folgten. Doch erst mit Raphael gelang ihr der Durchbruch, jedes Jahr erscheint ein neues Buch der "Neuen Wunder von Agios Raphael", inzwischen ist die Äbtissin bei Band fünfundvierzig angelangt. Zwei Nonnen sind jeden Tag nur damit beschäftigt, die Bücher der Wunder in alle Welt zu verschicken. Die Gesamtauflage der Werke Kleidaras wird mit sieben Millionen beziffert.

Die Sonne steht schon hoch am Himmel, die ersten Zikaden beginnen zu krächzen, es wird allmählich warm. Zuckerwatte und Souvlaki werden gedreht, die Souvenirhändler packen Kaffeetassen mit dem Abbild Irinis und Plastikfläschchen mit dem Konterfei Raphaels aus, damit die Pilger ein paar Tropfen des heilsamen Klosterwassers mitnehmen können nach Thessaloniki, Athen, Frankfurt, New York. Während der Bischof psalmodiert, spielt die Militärkapelle bei der Ankunft jeder politischen Persönlichkeit einen lauten Tusch, doch die akustischen Dissonanzen stören die Äbtissin nicht. Das Militär stand ihr stets zur Seite. In ihrem Garten steht das Modell der "Agios Theodoris", ein Geschenk der Streitkräfte, denen die Äbtissin ihrerseits einen Satelliten zur Beobachtung der türkischen Küste spendierte. Schließlich waren es die Türken, die Raphael so grausam hingerichtet hatten, am 9. April 1463, an einem Dienstag nach Ostern.

Fünfhundertvierzig Jahre später sind so viele Menschen auf dem Hügel Raphaels wie noch nie zuvor. Sogar das Fernsehen darf filmen. Doch keiner weiß, ob sie erscheinen wird, die Äbtissin ist betagt. Gerüchte von ihrer Erkrankung kursieren. Doch da läuten die Glocken, die Soldaten bilden ein Spalier, die Äbtissin tritt leibhaftig aus ihrem Refugium. Vor sich her trägt sie, auf einem roten Kissen, den silbernen Schrein mit den Gebeinen des heiligen Raphael, gefolgt von vierzig schwarzen Nonnen und dem Bischof in schwerem Gold mit funkelndem Zepter und diamantener Krone.

Zaghaft schreitet die alte Frau voran. Manchmal sieht sie aus, als würden ihr die segenspendenden Knochen allmählich zu schwer. Als würde ihr dieser ganze Rummel um diesen alten Mönch langsam zuviel. Als würde sie den Geist, den sie rief, nun nicht mehr los.

Im Restaurant vor dem Kloster sind alle Tische besetzt. Gewaltige Portionen Lamm, Souvlaki, Kartoffeln werden serviert. "Die machen Geld wie Heu", sagt ein Vier-Zentner-Mann, Kommunist, Theodoris aus Thessaloniki. "Und die Kleidara ärgert sich schwarz. Die hätte nämlich gern etwas von dem vielen Geld." Theodoris ist kein Freund des Gotteshauses, aber er wohnt in der Nähe und kommt jedes Jahr, Kommunist hin, Kommunist her.

Auch in Thermi, dem Dorf in der Nähe, hält man vieles für Schein und wenig für heilig. Vor allem ärgert es die Bewohner, daß immer erzählt wird, die Äbtissin habe das Kloster gebaut. Dabei seien es doch die Leute von Thermi gewesen, die Öl gaben, Schafe schlachteten, Geld aus ihren Strümpfen holten, Grundstücke spendierten, um die Kapelle für die heilige Jungfrau Maria zu errichten. Im Kafenion "Die Freude" gleich gegenüber vom Barbier, der bis heute mit den neuesten Nachrichten handelt, erinnert man sich noch ziemlich genau, wie das damals war. Und der Wirt, Vasilis Petras, war sogar dabei, als sie zu graben begannen und eines Tages plötzlich auf etwas Hohles stießen.

Pagonis, der Fischer, lacht. Die paar Zähne, die noch geblieben sind nach diesem langen Leben, stehen kreuz und quer. Auch er hat damals in der Nähe des kleinen Schreines unter der Platane gegraben, auch er hat immer eine Kerze angezündet, wenn er auf dem Weg zu seinen Bäumen vorüberkam. "Denn das stimmt schon: Alle im Dorf träumten vom heiligen Raphael. Und alle glaubten, daß er irgendwo da oben begraben sein müsse." Es gab nur ein Gesprächsthema im Dorf: Raphael. "Und je mehr sie über ihn sprachen, je mehr träumten sie auch von ihm." Pagonis lacht, daß die gelben Zähne wackeln.

Er erinnert sich noch genau an Raphael: "Strahlend weiße Zähne hat er gehabt, so etwas hab' ich noch nicht gesehen." Aber wie das dann war mit den Knochen, die plötzlich so schwer gewesen sein sollen, daß Doukas Tsolakis sie nicht mehr heben konnte, davon weiß er nichts. Auch nichts davon, wie Leonidas Sideras dem Sack mit den Knochen einen solchen Tritt versetzte, daß sein Bein taub wurde und er zeit seines restlichen Lebens humpeln mußte. All diese Geschichten, die sich damals im Dorf ereignet haben sollen, sind heute vergessen. Davon erzählen nur noch die Bücher des "heiligen Mütterchens", wie die Äbtissin gerne genannt wird.

Statt dessen erzählt man im Dorf, daß eine ganze Wand des Arbeitszimmers der Äbtissin mit Urkunden und Ehrendoktortiteln dekoriert sei. Man sagt, daß Männer aus Amerika gekommen seien, Mittelsmänner, die Geld für ihre Universitäten sammelten und der Äbtissin im Gegenzug verschiedene Ehrungen versprachen. Die vielen Auszeichnungen im Anhang eines ihrer englischsprachigen Bücher füllen elf Seiten, darunter sind Titel wie "Woman of the Year 1994 from the American Biographical Institute", der "International Price of Twentieth Century Literature from Cambridge University" oder der "International Award for Theological Studies from Ernst Heine University at Bremen, Germany". Die Liste ist so lang wie skurril, doch in Thermi ist man fern von der Welt, da kennt man keinen Heinrich oder Ernst Heine. Da ist man doch ein bißchen beeindruckt von der Äbtissin. Denn während andere ein Leben lang an einem kleinen Häuschen bauen, hat sie im Handstreich ein Imperium geschaffen.

So denkt der Barbier, so denkt der Wirt im Kafenion, und so denkt auch seine Frau. Auch wenn sie einmal flüstert, die Äbtissin sei eigentlich aus Liebe gekommen, wegen eines Mannes im Dorf. "Weibergeschwätz", sagt Pagonis, der sei es immer ums Geld gegangen. Pagonis weiß noch, wie die Äbtissin eines Tages plötzlich an der Straße stand, als er mit seinem klapprigen Dreirad vorbeikam: "Wie aus dem Nichts." Sie streckte die Hand aus, und Pagonis dachte: "Na, was ist denn das für eine? Fische will die sicher keine." Er hielt an, und sie sagte: "Kennst du jemanden, der hier ein Haus vermietet?" So kam sie nach Thermi. "Wahrscheinlich gefielen ihr diese Leute, die Geld zusammenlegten, um eine Kapelle zu errichten." Solche Leute brauchte sie, auch wenn ihr Größeres vorschwebte als eine kleine Kapelle für die heilige Jungfrau.

Die Geschichte des Klosters ist noch jung, aber von Legenden durchwoben wie eine tausendjährige. Schon jetzt droht die dünne Spur der Wirklichkeit verlorenzugehen. In der Hauptstadt erzählt man bereits, daß die Äbtissin selbst vom Heiligen geträumt habe und daß er ihr den Weg zu seinen Gebeinen gezeigt habe. Und noch weiter, übers Meer, da sieht man sie schon mit dem Spaten eigenhändig nach den Gebeinen ihres Raphaels graben.

Während draußen die Legenden reifen, sitzt die Äbtissin in ihrem Zimmer und schreibt, wie ihr Raphael erschienen ist, wie er ihr half, das Kloster vor dem Feuer zu retten, Kranke zu heilen, wie er sich nicht scheut, zu ihr ins Auto zu steigen und zu sagen: "Du fährst jetzt nicht nach Mytilini, du bleibst hier." Worauf sie gehorsam wieder aussteigt. So, wie sie auch gehorchte, als Raphael ihr zum ersten Mal erschien. Als Schäfer getarnt, der plötzlich seinen Mantel öffnete. Doch verbarg sich kein Exhibitionist unter dem groben Tuch, sondern ein leibhaftiges Skelett. Sie erschrak zu Tode, der Heilige aber beruhigte sie und sagte: "Ich bin Raphael, und du wirst keine Kirche für die heilige Magdalena bauen! Du wirst ein Kloster für mich bauen." Evgenia Kleidara gehorchte. "Und es sollte ihr Unglück nicht sein", sagt der Wirt.

Information:

Griechische Zentrale für Fremdenverkehr, Neue Mainzer Straße 22, 60311 Frankfurt, Telefon: 069/2578270, E-mail: mailto:info@gzf-eot.de, Internet: www.gnto.gr

FAZ - 2006
© Hans W. Korfmann

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