Spanischer Wein
Rioja liegt im Supermarkt. Und in der Nähe des Golfs von Biskaya. Früher schickten die Winzer ihre Trauben nach Bordeaux. Heute ist ihr Roter weltweit in Mode
VON HANS W. KORFMANN
Es ist noch gar nicht so lange her, da wusste kaum jemand, dass es eine Gegend namens Rioja gibt. Erst als der Name sich in den Regalen der Supermärkte zwischen Italien, Frankreich und der Pfalz einreihte, merkte der Deutsche, dass Rioja ein spanischer Wein ist. Bald darauf lernte er, dass Rioja nebenbei auch eine Provinz im Norden Spaniens bezeichnet. Die liegt etwa 100 Kilometer landeinwärts von den Atlantikhäfen Bilbao und San Sebastian. Weit entfernt von den Urlaubsküsten. Eher den launenhaften Winden des Golfs von Biskaya als ewiger Sonne ausgesetzt. Zweimal am Tag fährt ein Zug in acht Stunden von der Costa Brava quer durch Spanien nach Bilbao. Bald überwindet er die ersten Steigungen auf der kurvigen Spur zwischen den Felsen, taucht in Tunnel, überfliegt Täler. Der Reisende auf den Spuren seines Lieblingsweins, träumt bereits von einer fruchtbaren Hochebene mit winzigen Dörfern inmitten dunkelgrüner Weinfelder unter einem alpinblauen Himmel. Als das Klettern ein Ende hat, kommt die Ernüchterung.
Stundenlang folgen die Schienen dem Verlauf eines breiten Flussbetts, in dessen Mitte ein lehmfarbenes Rinnsal fließt: der Ebro. Bewässerungskanäle bemühen sich, die vertrocknende Erdscholle vor der endgültigen Verwüstung zu bewahren. Im Speisewagen wird ein mäßiger Rotwein serviert. Draußen zieht eine trostlose Ebene vorüber. Ab und zu haben Wind und Wasser einen Sandstein stehen gelassen, um die Monotonie nicht grenzenlos werden zu lassen. Auf einer fernen Hügelkette steht in Reih und Glied ein Heer stromerzeugender Windräder, das erahnen lässt, weshalb Don Quijote von solch trauriger Gestalt war. Sogar dem Video im Zug, das die Fahrgäste vor der Melancholie bewahren soll, fallen keine anderen Bilder ein als die dreier durch die Wüste irrender Cowboys auf der Suche nach Wasser. Selbst John Wayne verliert allmählich die Nerven.
Achtlos fährt der Zug an den wenigen Stationen landwirtschaftlicher Stützpunkte mit Betonsilos und verrostenden Gerätschaften vorüber. Die Stadt mit dem poetischen Namen Saragossa überrascht mit Plattenbaufassaden. Schließlich verliert auch der Himmel die blaue Farbe, der Atlantik schickt eine Vorhut schlechten Wetters. Gänzlich in sich zusammengesunken, erspäht der Reisende die ersten Reihen gelb verfärbter Rebstöcke. Dann setzt der Regen ein.
Der Zug hält quietschend neben dem kleinen Bahnhofsgebäude von Haro. Wenige Sekunden später herrscht wieder Stille. Der Mann am Schalter hat sein Fenster geschlossen. Kein Bus, kein Taxi, keine Telefonzelle. Dass von hier aus die riojanischen Weine die Welt eroberten, beweist ein unvergesslicher Geruch, der über den Schienenschwellen liegt: Es duftet nach Fässern, feuchten Kellern, altem Wein. Und wer ein paar Schritte aus der Bahnhofshalle hinaustritt, sieht die bekannten Schriftzüge, zum Teil noch mit dem Pinsel auf die Kalkwände der Bodegas gemalt: Rioja Alta, Bilbanias, Carlos Serres, Muga.
Eine halbe Stunde läuft man auf den strategisch günstig gelegenen Lehmklumpen hinauf, der bereits vor Jahrhunderten den Königen von Navarra aufgefallen ist. Sie gründeten dort eine Siedlung. Der Blick geht über schiefe Schindeldächer. Dicht stehen die Häuser im alten Viertel zusammen. Der Wind hat tiefe Furchen in den Sandstein der jahrhundertealten Gemäuer geschliffen. Weinschänken in den engen Straßen, Cafés am sauberen Platz, die Menschen trinken, kauen an Brötchen mit Seranoschinken und ärgern sich über den FC Barcelona. Der herausgeputzte Platz hat auch im Regen seinen Charme. Gelassen verfallen wenige Meter weiter allmählich die Häuser, vergammeln die hölzernen Fensterläden, von ausgefrans- ten Stricken zusammengehalten.
Haro sieht bescheiden aus. Doch der erste Eindruck täuscht. Da steht das ehemalige Kloster Los Augustinos mit vier Sternen neben dem Portal. In den luxuriösen Zimmern schlafen zu erstaunlichen Preisen Gäste, die nicht von Reiseveranstaltern verschickt werden, sondern im Auftrag der Chefetage kommen. Im Winter halten Weinhändler aus aller Welt die christliche Festung aus dem Jahr 1741 besetzt.
Über 20 Bankfilialen stehen in den winzigen Gassen für die knapp 9000 Einwohner und für die Geschäftsreisenden bereit. Das Städtchen ist reich. » Sehr, sehr reich!«, sagt die junge Frau hinter dem Tresen der Touristeninformation und zieht die Stirn in Falten. » Und nicht wegen der Touristen.« Gerade mal 5000 ausländische Urlauber besuchten im vergangenen Jahr die »Hauptstadt des Weins«.
Schon im Jahre 1102 versah König Sancho von Navarra die riojanischen Weine mit einer offiziellen Auszeichnung. 1635 vertrieb der um seinen Wein besorgte Fürst von Logrono Ochsenkarren aus der Nähe der Kellereien, um unnötige Erschütterungen zu vermeiden und die heilige Ruhe in den Fässern nicht zu stören. 1787 wurde die Real Sociedad Económica de Cosecheros, die Winzergenossenschaft, gegründet.
Heute liegen über 400 Kellereien in der Provinz, 17 davon in der kleinen Stadt auf dem Lehmklumpen. Die Riojaner versorgen die Menschheit mit 190 Millionen Litern Wein.
Doch es war nicht etwa die Gunst der Lage, die den ganz großen Segen brachte - es war die Reblaus. Die nämlich erreichte im 18. Jahrhundert mit einem aus Amerika kommenden Schiff die französische Küste und fraß sich unbarmherzig durch die französischen Weinäcker. Erst die steil aufragenden Pyrenäen vermochten dem Vormarsch des Insekts Einhalt zu gebieten.
Da nun die Franzosen ohne Wein nicht leben mochten, spähten sie bei den Nachbarn jenseits der Berge nach dem berauschenden Rohstoff und kamen allmählich ins Geschäft mit ihnen. Gemeinsam pflügte man das Land um, pflanzte Rebstöcke, legte Schienen und eröffnete 1863 inmitten der Weinfelder den Bahnhof von Haro. 1890 erstrahlte Haro als erste spanische Stadt unter dem Licht der elektrischen Glühbirnen, ließ sich die Spanische Bank zwischen den Weinfeldern nieder. Millionen Tonnen von Trauben rollten in den folgenden Jahren über die Gleise in Frankreichs Weinkeller, wo die Meister aus Bordeaux den Most in Eichenfässern zu ihren berühmten Weinen ausbauten.
Mit der Zeit schauten die Spanier den Trauben immer nachdenklicher hinterher. Und fragten sich, warum sie nicht selbst statt ihrer kleinen Keller große Kellereien anlegten.
Ein wirklich edler Reserva braucht einen guten Korken
Einer der Pioniere war Rafael López de Heredia, Spross einer aus Chile stammenden Familie, die sich am Golf von Biskaya niedergelassen hatte. Eine Fotografie zeigt ihn als einen bärtigen Mann um die 60, den breiten Hut eine Spur zu tief ins Gesicht gezogen, das Bein wie ein erfolgreicher Großwildjäger auf einen Felsen gestellt. Es ist das Jahr 1877. Rafael López de Heredia hat sich Geld geliehen, Pickel und Schaufeln gekauft, einige Arbeiter aus Biskaya mitgebracht und damit begonnen, den ersten Stollen in den Hügel zu treiben. 200 Meter lang soll er werden. Die sandigen Felsbrocken, die die Männer aus dem Berg hauen, benutzt er zum Bau des Wohnhauses. Jahre dauert es, bis dieser erste Weinkeller fertig wird. Längst müssen sich die hölzernen Schubkarren einen Weg zwischen den Fässern bahnen. Als man 1895 die volle Länge erreicht hat, ist der Wein in den vorderen Reihen bereits 15 Jahre alt. Sofort beginnt man mit dem Bau des zweiten Kellers. Auf dem Papier hat Rafael López de Heredia ein weit verzweigtes Tunnelsystem aufgezeichnet.
»Wir sind noch immer nicht fertig damit«, lacht die sommersprossige Nachfahrin des Pioniers und leuchtet mit der Taschenlampe in einen jüngeren Stollen. » Wir bauen bis heute nach diesen Plänen aus dem Jahre 1877 und versuchen, das Werk meines Urgroßvaters zu vollenden. Viele hier halten uns für verrückt. Vielleicht sind wir das auch.«
María José López de Heredia streicht mit der Hand über eine alte Maschine, die einst ihr Großvater konstruiert hat. Noch immer, sagt die Erbin, benutze man das Gerät zum Einkorken der Grand Reservas. Das dauere seine Zeit. Allerdings könne man mit dieser Maschine auch einen sehr harten Korken verarbeiten. Und schon der alte Rafael sei einmal im Jahr in den Westen gefahren, um bei den Bauern an Ort und Stelle die Korkeichen auszuwählen. Noch heute halte man an dieser Tradition fest. Ein guter Korken sei unerlässlich, um Wein wirklich altern zu lassen. » Wir trinken«, sagt sie und macht ein ernstes Gesicht, »gerade einen 43er. Der ist ausgezeichnet.« Es klingt, als spräche sie vom täglichen Tischwein.
Mehrmals im Monat fliegt ein Privatjet aus Japan ein
Der altertümliche Familienbetrieb produziert 800 000 Liter. Zwar lagern 15 000 Bordeauxfässer in den Katakomben, doch lässt man den Wein bis zu acht Jahre im Fass reifen, um ihm jenen samtigen Geschmack zu verleihen, der den Namen López de Heredia berühmt gemacht hat.
Andere Kellereien, die bald um den ersten Stollen nachwuchsen, produzieren und verdienen längst ein Vielfaches. Das spanische Gesetz schreibt für einen Grand Reserva mindestens zwei Jahre Fassausbau vor. Daran halten sich alle. Nicht López de Heredia. Das Prädikat Grand Reserva verdient sich ein Tondonia López de Heredia erst nach mindestens sechs Jahren in der weißen Eiche aus Ohio und weiteren sechs bis sieben Jahren im Flaschenkeller.
María José zieht den Vorhang aus Spinnweben beiseite und eine Flasche aus dem Regal - Jahrgang 1893. Sie kennt jeden Keller und jeden Jahrgang, sie fragt die Arbeiter in der Küferwerkstatt, die das ganze Jahr über mit dem Austauschen der faulen Dauben in den Holzfässern beschäftigt sind, nach der Elastizität der letzten Holzlieferung. Kein einziger Stahltank ernüchtert im unterirdischen Reich. Sogar die 72 großen Behälter zur Gärung sind aus Holz. » Der da ist 150 Jahre alt und fasst 64 000 Liter.« Einen einzigen Franzosen gibt es noch, der diese riesigen Holzbottiche herstellen kann. Von Frankreich erzählt sie viel. Dort hat sie Önologie studiert. So wie ihr Urgroßvater. Der hatte sich auch alles von den Franzosen abgeguckt.
»Natürlich ist das eine Liebhaberei!«, sagt sie. » Eigentlich sind unsere Weine viel zu billig - wenn man die Arbeit bedenkt, die wir uns machen. Aber es geht.«
Auch dank der Japaner zum Beispiel. Mehrmals im Monat kommt ein Privatflugzeug, in das einige Kästen Wein verladen werden. Unter Asiaten herrscht die Sitte, den 20. Geburtstag eines Mannes mit einem gleichaltrigen Wein zu feiern. Das Öffnen des Wachsverschlusses auf den alten Flaschen beendet das Jünglingsdasein. Auf der Suche nach solchen Raritäten reisen die Japaner um die halbe Welt.
»Ein bisschen merkwürdig ist das alles schon. Aber wenn Sie so eine alte Flasche öffnen und den ersten Schluck trinken - dann wissen Sie, dass sich das alles doch gelohnt hat.«
María José López de Heredia zieht einen Korken und spült mit dem ersten Schluck die Gläser aus. Dann füllt sie zum zweiten Mal, überlegt einen Moment und holt ein weiteres Glas. Für sich.
Draußen strahlt grelle Sonne, es ist elf Uhr vormittags. Zwei Arbeiter aus Galizien heben einen mit Hammer und Meißel bearbeiteten Eckstein auf das Mauerwerk. Es wird noch dauern, bis das Werk des alten López de Heredia vollendet ist.
Information
Anreise: Mit Iberia täglich ab Berlin, Hamburg, München nach Barcelona (von etwa 390 Mark an) oder Bilbao (von rund 450 Mark an). Mit dem Zug ab Barcelona täglich 10.03 Uhr und 13 Uhr, Ankunft Haro 15.45 und 18.55 Uhr (Touristenklasse 51 Mark). Busse in die Provinzhauptstadt Logrono von Madrid und Bilbao.
Unterkunft: Im Vier-Sterne-Hotel Los Augustinos (Tel. 0034-941/31 13 08) kostet das Doppelzimmer 130 Mark, im etwas außerhalb der Stadt gelegenen modernen Vier-Sterne-Hotel Iturrimurri (Tel 0034-941/31 12 13) rund 150 Mark. Außerdem gibt es preiswerte Pensionen (circa 20 Mark) und einen Campingplatz. Zahlreiche Restaurants mit deftiger riojanischer Küche und Tapas in der Calle St. Thomas und im historischen Stadtkern.
Weinkellereien: Zu besichtigen sind unter anderem Bodegas Muga, montags bis freitags jeweils 11 und 16 Uhr, samstags und sonntags bis zu dreimal vormittags, Preis knapp 6 Mark inklusive Weinprobe und Verköstigung, Tel. 31 28 67; Bodegas Bibanias, samstags und sonntags jeweils 10 und 12 Uhr, Tel. 31 07 06; Bodegas Federico Paternina, nach Vereinbarung, Tel. 31 27 78 und López de Heredia, nach Vereinbarung und rechtzeitiger Anmeldung unter 31 02 44. Ein Tondonia Grand Rerserva 92 kostet etwas über 20 Mark, ein 73er fast 100 Mark.
Auskunft: Touristeninformation Haro, Monsenor Florentino Rodríguez Square, E-26200 Haro, Tel. 0034-941/30 33 66, Spanisches Fremdenverkehrsamt, Myliusstraße 14, 60323 Frankfurt, Tel. 069/72 50 33, Fax 72 53 13.
MIT 190 MILLIONEN LITERN Wein versorgen die Riojaner die Menschheit
Die Zeit - 2000
© Hans W. Korfmann
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