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Die Stiere und das Feuer

San Sebastian im spanischen Baskenland hat kein gutes Image. Dennoch kommen einmal im Jahr die Spanier zu hunderttausenden, um bei der „Semana Grande“ und dem internationalen Wettbewerb der Feuerwerker dabei zu sein.

Von Hans Korfmann

San Sebastian ist eine feine Stadt. Wenn über den Pyrenäen die Sonne aufgeht, hat sie sich schon wieder herausgeputzt. Die Straßen glänzen von der Seifenlauge, mit der man im Morgengrauen den Rest vom gestrigen Fest weggespült hat. Etwa eine Million Besucher empfängt die Stadt jedes Jahr während der Semana Grande, der Großen Woche. Die meisten sind Spanier. Sie kommen wegen der Stierkämpfe. Und wegen des Feuerwerk- Wettbewerbs, der dieses Jahr im August seinen vierzigsten Geburtstag hat. Dann wird sich die Bucht von San Sebastian an sieben Abenden in eine gigantische Arena verwandeln, in der sich Pyromanen aus aller Welt ein Stelldichein geben.
Doch noch ist die Nacht fern. Die beiden Berge, Urgull und Igueldo, die sich am Eingang der Bucht wie zu klein geratene Zuckerhüte gegenüberstehen, liegen im dunstigen Licht des Morgens. Der ewigfeuchte Atem des Atlantiks hat auf ihren steilen Hängen Eichen, Platanen, Zedern und Tamarisken wachsen lassen. Auf geschwungenen Wegen, die entlang der steilen Küste auf den Urgull führen, tauchen die ersten San Sebastianer auf, traben in Turnschuhen, wandern mit gepflegten Hunden zu den Bänken über dem Meer, um Zeitung zu lesen oder um nachzusehen, ob ihre Isla de Santa Clara, die grüne Perle in der Mitte der blauen Muschel, noch da ist.
Auch eine kleine Gruppe Deutscher aus Schwaben ist schon auf den Beinen. Von San Sebastian haben sie noch nichts gesehen, nicht einmal die 30 Meter hohe Christusstatue, die auf dem Gipfel des Urgull mit erhobener Hand die Stadt segnet. Obwohl Ulrich Frick ständig besorgt nach oben blickt: Es sieht nach Regen aus. Eine halbe Tonne Schwarzpulver hat er mitgebracht, um ihre Raketen in die Luft zu befördern. Genug, um das mondäne Rathaus, in dem einst nächtelang Roulette gespielt wurde, in die Luft zu sprengen. Wenn das Pulver nass würde, müssten die Schwaben wieder unverrichteter Dinge nach Hause fahren. „Jedes Mal, wenn wir hier sind, ist das Wetter so.“
Auf den Postkarten dagegen scheint die Sonne. Dass die schönen Karten lügen, ist den Surfern nur recht. Die Wellen im Golf von Biskaya, mit den zerborstenen Schiffen auf seinem Grund, sind legendär, die Fahne am vom ewigen Wind gebeugten Mast neben dem Hochsitz des Bademeisters zeigt rot. Doch von zehn bis acht ist Badezeit, auch wenn Öllachen an Land schwappen oder der Wind heftig bläst. Punkt zehn wird Gelb geflaggt, stehen die Schwimmlehrer am aufblasbaren Schwimmbecken, um nichtschwimmenden Spaniern zu zeigen, wie man beim Sprung ins Wasser die Arme über dem Kopf zusammenhält. Der Eisstand öffnet, Liegestühle, Kanus und Sonnenschirme werden vermietet. San Sebastian mit seinen Villen und seinen langen Streifen englischen Rasens bis zum Meer, hat noch den vornehmen Charme und die prüde Strandordnung alter Badeorte.
Ulrich Frick liegt nicht am Strand. Er steht neben dem Lkw, in der Hand den Lageplan: „Zehn 75er, fünf 150er, drei 250er.“ Die Schwaben schwitzen, auf 100 Metern der sieben Kilometer langen Strandpromenade werden Batterien von Röhren aus Stahl, Plastik und Pappe zusammengestellt, kleine Bastionen von bis zu 70 Kanonenrohren. Drei Kilometer Zündkabel müssen vom zentralen Computer zu den einzelnen Zündschnüren verlegt werden, die auf Knopfdruck in einer Viertelstunde insgesamt 1275-mal auf die Zehntelsekunde genau zünden werden. Ein erheblicher Aufwand – aber wenn man dann sieht, dass tausende von Menschen eine Viertelstunde nur noch dastehen und staunen – dann lohnt sich dieser Aufwand“, sagt Ulrich Frick. „Die Spanier haben keine Probleme mit den Böllern.“ Die Spanier lieben das Feuer.
Auch von der Festung des Urgull blicken Kanonen aufs Meer und beweisen, wie attraktiv die geschützte Bucht der Walfänger schon immer war. Doch San Sebastian blieb lange ein unbedeutendes Dorf im Schutz der Festung. Erst, seit im Sommer 1845 Königin Isabell II beim Anblick der Muschelbucht in Entzücken geriet, die Kutsche anhalten und prompt ein zweistöckiges Umkleidehäuschen am Strand errichten ließ, hat der Name des Ortes einen vornehmen Klang. Königin Maria Cristina richtete ihre Sommerresidenz im Palast von Miramar ein, ein Schlossgarten wurde angelegt, Luxushotels, Spielkasinos und Theater folgten. Die Engländer kamen zum Golf, und die Franzosen übten sich im Tontaubenschießen. Die Goldenen Zwanziger waren angebrochen, San Sebastian mit seinem milden Sommer wurde zum Spielplatz der europäischen High Society.
Doch ein paar Jahre später ging der königliche Glanz im Pulverdampf des spanischen Bürgerkriegs unter. Seinen Tiefpunkt erreichte das Städtchen in den 60er Jahren, als drei der großen Strandhotels aufgaben. Die „Semana Grande“ mit ihren Pferderennen und Stierkämpfen verkam zur unbedeutenden Kirmes, die Stierkampfarena wurde geschlossen. Das Fest schien verloren, und die Idee, stattdessen zu einem internationalen Wettbewerb der Feuerwerker aufzurufen, war ein verzweifelter Rettungsversuch. Doch der Eingriff hatte Erfolg, und seit drei Jahren stechen auch die Toreros wieder zu.
Ulrich Frick interessieren die Stiere nicht. Er ist gerade dabei, seine Kanonen mit Kugelbomben zu stopfen. Acht Kilo wiegt die größte von ihnen, 300 Euro kostet die teuerste. Er blickt übers Meer, und endlich zeigt sich am Horizont eine schmale Spur blauen Himmels. Ein Paraglider schwebt vom Monte Urgull hinüber zum Monte Igueldo, wo die hölzerne Zahnradbahn seit 1912 Besucher zum alten Vergnügungspark transportiert. Waghalsig balanciert die Achterbahn auf einem Konstrukt aus bröseligem Zement und rostigen Gleisen die Steilküste über dem Meer entlang. Die Schreie der Menschen sind gellender als der Ruf des Raubvogels, der den Gipfel umkreist.
Unten aber hat inzwischen das Fest begonnen, Musik schallt von den Plätzen herauf, Blaskapellen aller Größen ziehen kreuz und quer durch die Straßen, Kinder hüpfen in Säcken übers Pflaster, Männer in Sträflingsanzügen sprengen eiserne Ketten, und von den Seilen der Jongleure springen riesige Zwirnrollen weit über die Dächer hinaus.
Auch die E.T.A., die baskische Untergrundorganisation, hatte hier ihren alljährlichen Auftritt, zog, angeführt von lächelnden Mädchen in Trachtenröcken, protestierend den Boulevard entlang. Im Schutz der Dunkelheit folgten Farbbeutel, trafen Pflastersteine vermummter Truppen das Rathaus, bis Polizisten in roten Helmen und schwarzen Kampfanzügen dazwischen gingen. Doch viel Unruhe kam nie in die feiernde Menge.
Ulrich Frick steht vor dem Computer und studiert die Liste der 1275 Zündungen. Er sieht die Bilder schon am Himmel, hat Visionen. Doch ädie Wege von der Idee zur Realisation sind lang in der Pyrotechnik. Ein Musiker kann sich mit seiner Eingebung ans Klavier setzen und hört sofort, wie es klingt. Aber ein Feuerwerk kann man nicht proben. Man weiß nie, wie das, was man sich ausmalt, aussehen wird. Ob es Vision bleibt oder Wirklichkeit wird. Deshalb ist jedes Feuerwerk einmalig!“ Vor drei Jahren hat er die zehnköpfige Jury im Hotel Londres mit seiner Feuerkunst überzeugen können und die „Goldene Muschel“ gewonnen.
Und deshalb strömen die Menschen jetzt zu tausenden auf die Promenade. Die besten Plätze unter der Markise vor dem Hotel Londres sind schon seit dem frühen Abend besetzt. Am Strand stehen die Menschen in der Schlange, um sich einen der 7000 Stühle auszuleihen und dicht gedrängt wie im Kino vor der blauen Leinwand des Himmels zu sitzen. Sie kommen mit Popcorn und Schokolade, Proviantkörben mit Wurst und Käse, Weinflaschen und Sektgläsern, Großvätern, Schwiegermüttern, Bekannten und Kindern. Die Spanier lieben die Stiere, aber sie lieben auch das Feuer.
Auch auf den steinernen Molen des Hafenbeckens sitzen die Menschen auf Pollern, Tauen, Reusen, kauen auf fangfrischen Garnelen, die wie gebrannte Mandeln tütchenweise verkauft werden. Um die Schaulustigen näher an die Abschussrampe zu bringen, schleichen elektronische Ausflugsboote in die Nacht hinaus und reihen sich in den letzten Lücken der Armada ein, die in der Bucht vor Anker gegangen ist. Auch die 90- jährige Zahnradbahn muss noch einmal alle Zähne zusammenbeißen, um Schaulustige auf den Monte Igueldo hinaufzutransportieren. Die Festung ist belagert wie in ihren besten Zeiten, von friedlichen Liebespaaren, die sich im lauen Nachtwind küssen und auf die Bucht mit ihren Booten und Lichtern blicken.
„ Hunderttausend werden es schon sein!“, sagt Manu Narvacz, der Direktor des „Centro de Attracción y Turismo“, zufrieden auf seiner Balkonloge und lächelt. Ulrich Frick lächelt nicht. „Ich kann jetzt nicht auch noch an die Zuschauer denken. Ich bin sowieso schon ganz nervös!ô Als Kind ist er davongelaufen, wenn es zum Jahreswechsel auf Mitternacht zuging. Jetzt würde er die 500 Kilo Schwarzpulver am liebsten mit dem Streichholz zünden. Ganz nah dran sein. So wie die Spanier, für die es auch nie nah genug sein kann.“
Und dann beginnen alle Verkehrsampeln der Stadt zu blinken, die Lichter der Promenade erlöschen, die Scheinwerfer vor den Festungsmauern werden abgeschaltet, sogar Christus auf seinem Sockel über der Stadt wird ausgeblendet. Es wird still in der geschwätzigen Kulisse des gigantischen Theaters. Von den äußersten Punkten der Bühne steigen glitzernde Fontänen in den Himmel, wachsen langsam zusammen und stellen eine silberne Wand aus Licht vor das Spielkasino. Unten am Strand haben sich die Menschen von den Stühlen erhoben, und oben am Berg nehmen sich die Paare mit jedem Donner fester in die Arme.
Auch Ulrich Frick blickt fasziniert in den Himmel. Sieht, wie sich die riesigen Sträuße der Chrysanthemen entfalten, jede mit einem Bukett von 150 Metern. Wie Sternennebel aufleuchten und wieder verglühen. Wie sich silberne Girlanden in die Nacht schrauben, ein Goldregen über dem Wasser niedergeht, wie plötzlich aus einer Wolke tausender winziger Funken ein Schwarm weißflatternder Friedenstauben aufs Meer hinaus fliegt. Wie ganz langsam kleine Sputniks aufsteigen, einander umkreisen und plötzlich in alle Richtungen davonstieben.
Immer höher steigen die Raketen, immer dichter folgen sie einander, eine Palme neben der anderen wächst in die Nacht, bis ein farbenprächtiger Urwald am Himmel steht. Immer größer werden die dreidimensionalen Kugeln, die über dem Wasser aufleuchten, gewaltige Lichtblüten, in deren Zentrum sich die nächste öffnet, noch bevor die andere erloschen ist. Immer wieder Werden und Vergehen im Zeitraffer, Aufblühen und Verglühen, bis sich am Ende alles in einem chaotischen Finale auflöst, einem ohrenbetäubenden Stakkato aus Blitz und Donner und einer noch lange über der Stadt stehenden Rauchwolke. Dann hört Ulrich Frick den Applaus und die dumpfen Hörner der Boote.
Und w ährend die letzten Papphülsen, groß wie Kokosnussschalen, vom Himmel fallen, die Feuerwehr die Raketenbasis prophylaktisch unter Wasser setzt und der Pyrotechniker seinen Laptop zusammenklappt, ziehen die Spanier weiter zum brennenden Stier, der gleich durch die Straßen ziehen wird. Von den Kaimauern springen Kinder drei Meter tief ins nachtschwarze Wasser des Hafenbeckens – so viele Zuschauer haben sie sonst nie! Aber irgendwann verlieren sich auch die letzten Zuschauer in den vielen Bars des einst bedeutungslosen Fischerdorfes, das Feuerwerk ist bald vergessen. Die Kinder werden Tage später noch die Plastikhülsen der Sprengkörper aus dem Wasser angeln. Aufgeregt werden sie den Beweis dafür hochhalten, dass die nächtlichen Erscheinungen Wirklichkeit waren, und keine Visionen. Und dass die Lichter am Himmel nächstes Jahr wieder erscheinen werden.

Service San Sebastian

Anreise: Der übliche Weg nach San Sebastian führt über Bilbao. Die spanische Fluggesellschaft Iberia fliegt über Barcelona und Madrid täglich ab Frankfurt a.M. für rund 312 Euro. Direkt fliegt die Lufthansa von Frankfurt für rund 347 Euro. Von Bilbao verkehren regelmäßig Busse, Fahrzeit ca. 1,5 Stunden, Ticket 7 Euro. Mit dem Zug erreicht man die Stadt am Atlantik von Madrid und Barcelona sowie mit dem französischen Hochgeschwindigkeitszug TGV über Paris und Bordeaux.

Unterkunft: San Sebastian hat 2300 Betten in der besseren Hotelklasse aufgestellt. (Im Hotel Londres, vier Sterne, mit bester Sicht aufs abendliche Spektakel kostet das Doppelzimmer 160 Euro, Tel. 0034/943/ 440941, Internet www.hlondres.com) In der Altstadt stehen in kleinen Pensionen über den lärmerfüllten Gassen nochmals 1500 Betten zur Verfügung. Im Sommer kosten die Doppelzimmer der einfachen Kategorien 40 bis 60 Euro (Pension La Perla, 40 Euro, Tel. 0034/ 943/428123; Pension Boulevard, 60 Euro, Tel. 0034/ 943/429405). Während der Festtage ist eine rechtzeitige Reservierung nötig. Eine vollständige Liste der Hotels findet sich im Internet unter www.san Sebastianturismo.com. San Sebastian hat einen Campingplatz, der breite Strand bietet jüngeren Gästen genügend Platz zum kostenlosen Ausbreiten des Schlafsackes.

Essen und Trinken: Anstelle der üblichen spanischen Tapas haben es im Baskenland die Pintxosô zu Ruhm und Ehre gebracht: liebevoll zubereitete Baguetteschnitten mit allem, was Meer, Weide und Berge hergeben. Daneben bemühen sich 300 Restaurants darum, der traditionellen Küche des Baskenlandes mit ihrer unverhohlenen Liebe zu Fisch, Lamm, Ziege und Ochsenfleisch zu mehr Ansehen in der Welt zu verhelfen. Das Tagesmenü inkl. Wein kostet um die 15 Euro. Etwas günstiger ist das „Gayarre“ in der Galle Nagusia, ein Selbstbedienungsrestaurant mit baskischen und spanischen Gerichten. Wie vielfältig und bunt der Fisch im Golf von Biskaja ist, beweist ein Besuch in den Fischrestaurants am Hafen.

Ausflüge: San Sebastian ist der ideale Urlaubsort für Familien. Im seichten Wasser der geschützten Bucht tummeln sich die nie frierenden Kinder hordenweise, und klein genug, um im Sand zwischen den Menschen noch einen Platz zu finden, sind sie auch. Die gut erhaltene Festung auf dem Urgull mit ihren Gängen und Verliesen ist ebenso abenteuerlich wie die steile Zahnradbahn oder das moderne Aquarium mit 5000 Fischen und der spektakulären Acrylröhre, die tief ins Meer hinabführt (täglich von 10 bis 20 Uhr).
Auch Reisenden ohne Kinder bietet San Sebastian mehr als nur einen elegant geschwungenen Sandstreifen. Entlang der Küste führt um den Igueldo ein Weg zu einigen rostigen, vom Salz zerfressenen Skulpturen des jüngst verstorbenen baskischen Steinhauers Chillida, die sich hier harmonisch ins Landschaftsbild fügen – ganz anders als im Zementgarten des Kanzleramtes in Berlin. Ein Park mit seinen Plastiken und das Chillida-Museum befinden sich außerhalb der Stadt. Das nautische und das berühmte San Telmo Museum in einem ehemaligen Franziskanerkloster sind einen Besuch wert.

Semana Grande: Die Semana Grande findet in diesem Jahr vom 10. bis 17. August statt. Doch nicht nur während der Semana Grande bietet San Sebastian ein interessantes Festprogramm. Die wichtigsten Ereignisse: im Juli das mehrtägige internationale Jazzfest, im September die internationalen Filmfestspiele, die denen von Cannes um nichts nachstehen möchten und einige Prominenz anlocken.

Auskunft: Die Touristeninformation (Centro de Attracción y Turismo) befindet sich in der Calle Reina Regente Nr 3 (Am Ende des Boulevard) Tel. 0034/943/ 481166. Weitere Auskünfte erteilt auch das Spanische Fremdenverkehrsbüro, Myliustraße 14, 60232 Frankfurt a.M., Tel. 069/725033, Fax 725313, E-Mail frankfurttourspain.es

Frankfurter Rundschau - 2003
© Hans W. Korfmann

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