Es ist ein langer Zug. Die Männer, eingehüllt
in Anoraks und dicke Jacken, die Ohrenschützer der Fellmützen
heruntergeklappt, haben flache Schlitten geschultert, Snowboards
unter dem Arm. Die Frauen ziehen ihre Kinder, eingewickelt, als
ginge es nach Sibirien, auf Plastiktellern durch den Schnee. Langsam
kriechen dampfende Autos die verschneite Straße entlang.
Elf Uhr morgens, Sonntag, der Schnee ist wenige Stunden alt. Zu
Tausenden haben sie sich am Fuße des Bergs versammelt. Nur
Kitzbühel ist schöner an solchen Wochenenden. Die Parkplätze
an der Teufelsseestraße sind überfüllt, eine Menschentraube
hängt vor dem VW-Bus, wo es Glühwein und Bratwürste
gibt. Oben weht scharf der Wind. Er hat Hunderte Kilometer Anlauf
genommen. Kein anderer Berg reicht so weit in den Himmel wie der
Gipfel des Monte Klamotte, die höchste Spitze einer winzigen
Hügellandschaft am Rand der großen Stadt.
800 Lastwagen voll Trümmer
Der »Skihang«, auf dem »Rodeln verboten«
ist, wird von den Kufen der Schlitten allmählich zu blankem
Eis poliert. Snowboarder kurven am Rand entlang, Mountainbiker zurren
den Helm fest und balancieren ihre Räder bis ins Ziel, wo Schaulustige
die Stürze verfolgen. Nur die Langläufer ziehen meditativ
ihre Loipe entlang, ohne dem Rummel einen Blick zu schenken. Ein
winterliches Idyll in Berlin. Ein Ort für Wintersport.
Genau den hatten die Stadtväter auch geplant,
als sie nach dem Krieg damit begannen, den Schutt aus der zerstörten
Hauptstadt zu schaffen. Die Hälfte davon, Trümmer aus
400 000 zerbombten Häusern, häufte man zum höchsten
Berg Berlins an. Den ersten Stein zu diesem Teufelsberg hatte Hitler
1937 noch selbst gelegt: den Grundstein zur »Wehrtechnischen
Fakultät« seines »Tausendjährigen Reichs«.
13 Jahre später schütteten Lkw ihre Trümmer in den
sinnlosen Rohbau und füllten die Ruine, als wollten sie ein
Kapitel deutscher Geschichte zudecken. Heute liegt die geplante
Kriegsakademie unter 26 Millionen Kubikmetern Kriegsschutt, begraben
in 100 Meter Tiefe.
Der Berg wuchs 22 Jahre. Bis zu 800 Lastwagen fuhren
täglich zur Trümmersammelstelle im Grunewald. Goldgräber
und Schatzsucher schlugen Basislager auf, ihre kleinen Feuer brannten
bis in die Nacht. Sie förderten Ritterkreuze, Ehrenzeichen,
Büsten und Bilder des Führers zutage, manchmal Tafelsilber,
von einer kompletten Leica-Ausrüstung ging die Sage. Es waren
Rentner und Arbeitslose, Kriegsverlierer. Die »Männer
streifen zu jeder Tageszeit auf dem Berg umher und suchen nach Eisen
und Buntmetallen«, schrieb 1955 die Berliner Morgenpost, rings
um den Berg »steigen schwarze Rauchfahnen in den trüben
Winterhimmel«. Damals tauften die Berliner den neu geborenen
Hügel auf den Namen Monte Klamotte.
Anfang der sechziger Jahre hatte der Nordhang des
Teufelsgebirges seine endgültige Gestalt angenommen, man pflanzte
Eichen, Erlen, Akazien - fast eine Million Bäume. Der Berliner
Hausberg war entstanden, ein Stück Natur mit Wanderwegen und
Rastplätzen, und schon träumte der Städter von einem
Wintersportzentrum mit einer Seilbahn, die von der Talstation zum
Gipfel führen sollte, von einem Restaurant mit großartiger
Aussichtsterrasse. Man legte zwei Sprungschanzen an, zwei Rodelbahnen
und einen Skihang. Der Berg über der Ruine begann zu leben
und wurde zu einem der beliebtesten Ausflugsziele der Berliner.
Als dann sogar ein Skilift in Betrieb genommen wurde und Schneekanonen
den unwilligen Wettergott überlisteten, war Preußen den
Alpen näher als je zuvor. Regelmäßige Skikurse fanden
statt, die Berliner Verkehrsbetriebe setzten einen Sonderbus ein.
Die Wasserleitungen für die Schneekanonen liegen
noch, doch Schnee produzieren sie schon lange keinen mehr. Immer
wieder schmolzen die Pläne vom Wintersportzentrum dahin. Kaum
hatte man 1963 das Modell der Gipfelstation mit Restaurant und Aussichtsturm
der Öffentlichkeit präsentiert, meldeten sich die Alliierten
zu Wort. Die Welt am Sonntag schrieb, dass sich bereits ein Dauermieter
für den Berliner Gipfel gefunden habe: Die Amerikaner wollten
»hier eine Telefonzentrale einrichten«.
Innerhalb kurzer Zeit schossen auf dem Gipfel fünf
gigantische Boviste aus dem Boden - eine der modernsten und teuersten
Abhöranlagen der Welt. Die weißen Kugeln wurden zum Wahrzeichen
des Trümmerbergs. Der viele Trubel gleich neben der Spionagestation
allerdings beunruhigte die Amerikaner, und 1972, als die Laster
gerade ihre letzten Ladungen abkippten, um die künstliche Gipfelwelt
des Teufelsgebirges zu vollenden, mussten die Berliner Wintersportler
sogar den Betrieb des nahe gelegenen Skilifts einstellen.
Mit ihren Antennen lauschten die Amerikaner bis in
die Sowjetunion hinein. Kein Telefongespräch in Mitteleuropa
war vor dem Lauschangriff sicher, erst recht keines in der Stadt
der Spione. Die Feldstation am Teufelsberg wurde zur Sperrzone,
ein fünffacher Armeezaun, Wachposten und Sicherheitsschleusen
verwehrten nun den Berlinern ihren Gipfelsturm. Unmissverständlich
warnten Schilder vor unbefugtem Zutritt, und die Ausflügler
hatten ihre Kameras wieder einzupacken, sonst drohte ihnen eine
Bestrafung nach den »Gesetzen der USA oder der BRD«.
Die Berliner mussten sich mit dem wenige Meter niedrigeren Nachbargipfel
des Teufelsbergs begnügen.
Weltcuprennen im Dauerregen
Dennoch erlebte der Teufelsberg am 28. Dezember 1986
seinen alpinen Höhepunkt, als 15 000 Zuschauer die 400 Meter
lange Piste säumten, um den ersten Weltcupslalom auf der mit
Kunstschnee präparierten Piste zu erleben. Im Berliner Dauerregen
gewann ein Österreicher, Leonhard Stock, den Parallelslalom,
während die Siegeshoffnung der Deutschen, Markus Wasmeier,
ausgeschieden kommentierte: »Super organisiert, tolle Resonanz!«
So tief unten war wohl noch nie ein Sieger eines Weltcuprennens
angelangt, das Stockerl nur wenige Meter über null. Doch so
stürmisch wie auf der viel bejubelten »Berliner Streif«
wurde selten ein Sieger gefeiert.
Der 28. Dezember war auch ein Höhepunkt im Leben
des Hubertus Müller. Seit über 30 Jahren kämpft das
ehemalige Vorstandsmitglied des Berliner Skiverbands für die
sachgerechte Nutzung des 115 Meter hohen Gipfels. Schließlich
habe man die »ersten deutschen Skier vor über 100 Jahren
in Berlin gebaut«. Und schließlich gebe es 400 000 begeisterte
Skifahrer in Berlin.
Doch Leonhard Stock blieb der einzige Sieger vom Schrottberg.
Obwohl die Amerikaner nach dem Fall der Mauer ihre 300 Spione vom
Teufelsberg abzogen. Es herrschte wieder Funkstille am Gipfel, nur
der Wind pfiff durch die offenen Türen und die zerbrochenen
Scheiben sein einsames Lied, das beim Berliner Skiverband den alten
Traum vom Lift und von den Schneekanonen wieder wachrief. Doch das
Pförtnerhäuschen mit den schwarz getönten Scheiben
blieb auch weiterhin besetzt und verhindert bis heute den Zutritt.
Denn der Gipfel hat längst einen neuen Eigentümer.
Bereits im Dezember 1996 hat das Land ihn verkauft. Zu einem »Skandalpreis«
von nur 5,2 Millionen Mark. Die Grünen protestierten, das »Aktionsbündnis
Teufelsberg« rief zur Rettung des Trümmerhaufens auf,
und die »Schutzgemeinschaft Deutscher Wald« klagte gegen
die Bebauung des Landschaftsschutzgebietes. Worauf der Senator für
Stadtentwicklung, Peter Strieder, kurzerhand dem Berg seinen staatlichen
Landschaftsschutz wieder entzog. Dennoch passierte lange Zeit nichts.
Und so war bis September 2000 noch immer keine Spur zu sehen vom
»Resort Teufelsberg« mit dem Fünf-Sterne-Hotel
nach »All-Suite-Konzeption« und seinen »136 eleganten
Suiten«, die der Unternehmer Hartmut Gruhl stolz angekündigt
hatte. Von einem Ballsaal, Restaurants, einer Beautyfarm, 100 modernen
Lofts und einer Tiefgarage mit 300 Stellplätzen im Kriegsschutt
war die Rede.
Inzwischen haben die ersten Stadtvillen Gestalt angenommen.
Allerdings hat Gruhl eingesehen, dass Berlin kein Pflaster ist »für
Luxus pur«. Die Quadratmeterpreise der Eigenheime haben eine
rasante Talfahrt hinter sich. Und für das geplante Luxushotel
findet sich kein Betreiber. Jetzt allerdings hofft die Investorengemeinschaft,
die Bundesregierung könne den Teufelsberg zum Petersberg machen.
Seit die Afghanistankonferenz im fernen Bonn und nicht in der Hauptstadt
tagte, träumt Gruhl vom staatseigenen Gästehaus in der
ehemaligen amerikanischen Sicherheitszone. Und spricht von Verhandlungen.
Doch bislang spricht nur er.
So ranken sich noch immer Gerüchte um den Berliner
Berg. Und beim Skiverband gibt man die Hoffnung nicht auf. Zwar
stünde es schlecht um eine Renaissance der »Berliner
Streif«, die mit 400 Metern Länge und 23 Prozent Gefälle
noch immer »weltweit der beste Skihang in einer Großstadt«
ist, wenn der Traum vom Gästehaus mit Sicherheitszone Wirklichkeit
würde. Aber noch ist alles offen. Die Berliner kennen ihren
Berg. Sie wissen: Er ist unberechenbar. So wie eben jeder richtige
Berg.
Anreise:
Der Monte Klamotte ist mit den
Bussen 146 und 216 sowie mit der S-Bahn 5 und 75 (Station Heerstraße)
zu erreichen
Die Zeit - 2002
© Hans W. Korfmann
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